Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
Vom Netzwerk:
hinunter, und das bläuliche Licht erinnerte sie stark an einen blauen Bannkreis. Dessen Bann jetzt gebrochen war. Sie ging hindurch. Gefühle strömten durch ihren Körper. Prickelnd, ziehend. Drei Jahre Zölibat. Vor der Toilette war eine Schlange. Eine Weile stand sie da und dachte nach. Die Minuten vergingen, zehn, zwölf. War es wirklich denkbar? Eine Stimme in ihr sagte: ›Ich habe dir vielleicht falsche Signale gegeben. Das war nicht meine Absicht. Es tut mir leid.‹ Die Arroganz, deren es bedurfte, um so etwas zu sagen.
    Die Schlange setzte sich noch ein gutes Stück jenseits der Toilettentür fort. Im selben Augenblick, in dem sie die Tür öffnete, schwang die Tür der Herrentoilette auf. Aber da war sie schon in der Damentoilette.
    Aus der Tür trat ein Mann im verschlissenen Leinenjackett mit einer Kunststoffbrille. Er betrachtete die Schlange vor der Damentoilette. Ein Dienstagabend. Es war erstaunlich. Dieses unendliche, nie versiegende menschliche Bedürfnis. Er hatte ein paar Bier intus und brauchte das Gefühl, dass seine Schuhe wirklich auf dem Boden aufsetzten. Er stieg langsam die erste Treppe hinauf, drängte sich durch die Menschenmenge und erklomm die zweite Treppe, die zum Obergeschoss führte. Hier oben war es dunkler und rauer. Es passte ihm besser. Obwohl der Geräuschpegel genauso hoch war, eine Mischung aus allzu lauter Musik und allgemeinem Lärm. Er drängte sich zur Theke durch, um noch ein Bier zu bestellen. Das misslang ihm gründlich. Der Barkeeper schien ihn nicht zu sehen. Einen Moment hatte er die Vorstellung, unsichtbar zu sein. Er fing an zu kichern. Wie ein unsichtbarer Mann kichern kann. Ohne dass jemand es zur Kenntnis nimmt.
    »Tatsächlich, so ist es«, sagte eine dunkle Frauenstimme.
    »Man kommt sich vor, als wäre man unsichtbar.«
    Er blickte zur Seite und zog die Augenbrauen hoch. Eine Frau von ungefähr fünfunddreißig Jahren saß leicht gequetscht auf einem Barhocker direkt neben ihm. Sie war ziemlich unansehnlich und machte einen sympathischen Eindruck. Und seine Dankbarkeit darüber, dass sie den ersten Satz gesagt hatte, würde er nie unterschätzen. Außerdem traf der Satz genau ins Schwarze.
    »Sie lesen meine Gedanken«, sagte er. »Wie unheimlich.«
    »Das denken die meisten hier an der Theke«, sagte sie. »Es sei denn, sie sind Verkäufer.«
    »Verkäufer?«
    »Die meisten hier sind Verkäufer«, sagte sie, »in der einen oder anderen Form. Lieben es, sich hinzusetzen. Die sieht der Barkeeper. Das scheint ein Naturgesetz zu sein.«
    »Darwin«, sagte er und wedelte vergeblich mit seinem Fünfzigkronenschein. Schließlich gab er es auf und wandte sich der Frau zu. »Ich heiße Paul«, sagte er. »Ich bin kein Verkäufer.«
    »Ich auch nicht«, sagte sie. »Ich heiße Christina.«
    Der nächste Satz hätte problematisch sein können, dachte Paul einen Tag später, doch genau in dem Moment kam er ihm nicht im Geringsten problematisch vor. Vielleicht war das Reife. Dass der nächste Satz tatsächlich keine größere Rolle spielte. Er hätte sagen können: ›Kommst du oft her?‹, ohne dass es eine Katastrophe gewesen wäre. Aber er sagte:
    »Ich hatte fest vergessen, wie es zugeht in der Kneipe. Dieses Gesetz des Dschungels. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.«
    »Dann ist das hier also Liebe?«
    »Krieg ist es doch wohl nicht?«, sagte Paul Hjelm vorsichtig.
    »Häufig doch«, sagte die Frau und musterte ihn. »Krieg zwischen Männern und Frauen, Krieg zwischen den Geschlechtern.«
    »Darauf verzichte ich gern. Wenn das überhaupt möglich ist.«
    »Lass uns nicht fragen, was wir beruflich tun«, sagte die Frau. »Es ist schön, um so etwas herumzukommen.«
    »Da bin ich deiner Meinung«, sagte er.
    »Es ist ziemlich laut hier«, sagte sie.
    Ja, dachte er. Und bald ist Mittsommer. Also lass uns gehen.
    »Wollen wir woandershin gehen?«, fuhr Christina fort.
    »Warum nicht?«, sagte Paul und lächelte. »Hast du einen Vorschlag?«
    »Hast du bei dir zu Hause schon ausgepackt?«, fragte sie.
    Sein Herz schlug schneller. Es überwand eine Schwelle und schlug auf einmal mit spürbar höherer Frequenz.
    »Meinst du das, was ich vermute?«
    »Die Scheidungssachen«, nickte sie. »Stecken sie noch in den Umzugskartons?«
    Er lachte überrascht. »Sprichst du aus eigener Erfahrung?«, fragte er.
    »Ja«, sagte sie und zeigte ein gewinnendes Lächeln. »Meine stehen noch da.«
    »Meine auch«, sagte er.
    Als sie das Lokal verließen, konnte er es nicht

Weitere Kostenlose Bücher