Ungeschoren
ich auf etwas aus war. Aber jedenfalls nicht auf einen Hallodri. Was immer man darunter verstehen mag.«
Sie warf einen Blick zu Lena hinüber. Aber die war nicht mehr da. Kerstin Holm war allein und sich selbst und diesem Mann ausgeliefert. Und sie hatte nicht das Geringste dagegen, sich mit ihm zu unterhalten.
Sie hatte rundum ein gutes Gefühl.
Mit einem kleinen Lächeln bahnte sich Lena Lindberg einen Weg zum Tresen. Sie hatte rundum ein gutes Gefühl, und doch hatte sie einen kleinen Kloß im Hals. Einst hatte es für so etwas ein Wort gegeben. Kupplerin. Aber ihre Erfahrung sagte ihr, dass sie das Richtige gefunden hatte. Viktor war genau der Typ, den Kerstin brauchte.
Ein Kerl fürs Bett.
Na ja.
Sie bestellte einen Gin Tonic. Der Barkeeper sah sie sofort. Es war unfehlbar. Sie war nicht gerade der Typ, der am Tresen unsichtbar wurde. Von allen Seiten zog sie Blicke auf sich. Wie gewöhnlich. Müdigkeit überkam sie. Die Sexualobjektmüdigkeit. Blicke, die sie auszogen. Sie hatte plötzlich Lust, den Pulli hochzuziehen und ihren eiternden Bauchnabel zu zeigen.
Sie suchte einen Blick, der nicht ihren suchte. An einem Tisch saß ein Mann, den sie zu kennen meinte. Er hob den Blick von einem Buch und fing ihren Blick auf. Nein, eher umgekehrt. Er sah wieder in sein Buch. Der Unityp. Ein bescheuerter Ort, um sich hinzusetzen und zu lesen. Sie wurde ein bisschen neugierig. Vielleicht vor allem, weil er sich abwandte.
Sie ging hinüber und stellte sich an seinen Tisch. »Kann ich mich setzen?«, fragte sie.
Er sah auf wie aus einer anderen Welt, mager, blond und zerzaust und in einem verschlissenen, ungebügelten Hemd ohne Kragen. Sie musste sich eingestehen, dass sie eine Schwäche hatte für diesen Typ, den etwas ungepflegten, weitabgewandten, intellektuellen.
»Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?«, sagte sie, weil sie nicht die Energie aufbrachte, sich eine originelle Einleitungsphrase auszudenken. »Ich kenne deinen Blick.«
»Meines Wissens nicht«, sagte er und schlug das Buch zu.
»Was kann man bei dem Lärm hier im Sturehof am späten Abend lesen?«
Er lachte und richtete seinen blauen Blick auf sie. »Nichts Besonderes«, sagte er. »Ich habe es heute Nachmittag gekauft.«
»Nun komm schon. Wenn du allein hier bist, dann nicht zum Lesen, sondern um Frauen zu treffen. Und wenn du hier bist, wendest du den Blick ab, wenn eine Frau dich ansieht, und liest weiter.«
Er ließ die Andeutung eines Lächelns erkennen und hielt ihr das Buch hin. Es hieß La perte sûr. Von Georges Martin-Roucaud.
»Philosophie«, sagte er. »Es handelt davon, wie der Mythos übermächtig wird und uns einholt. Gerade in dem Augenblick, in dem wir glauben, von jeder Mythologie frei zu sein. Ganz interessant.«
»Ich heiße Lena«, sagte sie. »Bist du sicher, dass wir uns nicht schon irgendwo begegnet sind?«
»Ich glaube, ich würde mich an dich erinnern«, sagte er.
»Ich heiße Claes. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht richtig, warum ich hierhergekommen bin. Es ist anstrengend, sich anschreien zu müssen. Ich ziehe einen normalen Gesprächston vor.«
»Dieses unendliche, nie versiegende menschliche Bedürfnis.«
»Was?«
»Du bist hergekommen aufgrund des unendlichen, nie versiegenden menschlichen Bedürfnisses. Sag’s mir, wenn ich mich irre.«
Dieses sanfte Lächeln hinab auf die Tischplatte. »Du hast bestimmt recht«, sagte er.
»Sollen wir irgendwohin gehen, wo wir reden können, Claes?«
»Über das unendliche, nie versiegende menschliche Bedürfnis?«
»Warum nicht?«
Er lachte wieder und stand auf. »Mit dem größten Vergnügen«, sagte er und vollführte eine kleine galante Geste.
Lena und Claes pflügten sich eine Bahn durch die dichter werdende Menschenmasse. Auf dem Weg hinaus warf Lena einen Blick zu einem Tisch im hinteren Teil des Lokals. Viktor stand auf und streckte Kerstin die Hand hin. Sie ergriff sie und stand auf. Lena winkte ihr kurz zu und verschwand in der lauen hellen Mittsommernacht.
Kerstin Holm fühlte eine sonderbare Ruhe, als sie vom Tisch aufstand. Sie hielt Viktors Hand ein bisschen länger als nötig. Er beugte sich tatsächlich zu ihr und berührte sie leicht mit den Lippen. Der dunkle Pferdeschwanz tippte gegen ihre Hand. Sie lächelte. Sie fühlte sich zu Hause. Dankbar winkte sie Lena zu, die gerade auf dem Weg hinaus war.
»Ich wohne nicht weit von hier«, sagte sie. »In der Regeringsgata. Kommst du mit hoch auf einen Kaffee?«
»Gern dampfend heiß«,
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