Ungestüm Wie Wind Und Meer
Geräusche. Nieselregen setzte ein.
Kit blinzelte durch die Regenschleier und entdeckte Jacks Beobachterposten. Der Mann stand auf einem Hügel, von wo aus er die Umgebung weit überblicken konnte. Kit hatte sich ihm im Schutz der windgepeitschten Bäume genähert doch eine größere Reitertruppe konnte ihm keinesfalls entgehen.
Bei den Booten sah Kit Captain Jack, wie ergoss und breitschultrig durch die Brandung watete, unterjedem Arm ein Fass. Der Anblick war kein Trost für ihre selbstquälerischen Gedanken.
Was sollte sie tun? Am Vorabend hatte sie verzweifelt ihre Möglichkeiten gegeneinander abgewogen, jeden Ausweg von allen Seiten ausgeleuchtet. Letztendlich hing dann doch alles von einem einzigen Punkt ab: Glaubte sie wirklich, dass Jack selbst in Spionageaffären verwickelt war? Die Antwort war ein eindeutiges, unerschütterliches, wenn auch nicht zu begründendes »Nein«. Angesichts dieser Tatsache kam sie zu dem Schluss, dass sie tatsächlich mit Lord Hendon sprechen musste.
Jack hatte zugegeben, mit dem Hochkommissar in Beziehung zu stehen, höchstwahrscheinlich durch die Versorgung des Schlosses mit Brandy. Vielleicht hatte sein mächtiger Wohltäter ja Erfolg, wo sie versagte, und brachte Jack zu Verstand. Sie konnte nicht glauben, dass Lord Hendon den Schmuggel von Spionen dulden würde, und traute sich durchaus zu, ihm klarzumachen, dass Jack persönlich nichts mit Spionage zu tun hatte, sondern nur auf Abwege geraten war.
Aber Lord Hendon war nicht zu Hause. Sie hatte allen Mut zusammengenommen und war nachmittags zum Schloss geritten. Der Stallmeister bedauerte. Lord Hendon hatte das Haus schon früh verlassen; wann er zurückkam, wusste niemand.
Noch beunruhigter als zuvor war sie nach Cranmer zurückgeritten. Sie musste unbedingt sehr bald mit Lord Hendon sprechen, sonst würde ihr Mut sie verlassen. Oder Jack schnappte sie und fesselte sie ans Kopfende seines Bettes.
Der Nieselregen wurde stärker. Ein Regentropfen fiel von ihrem Dreispitz und rann langsam ihren Nacken hinunter. Kit wandte den Kopf und sah nach Westen, in Richtung Holme.
Bei dem Anblick, der sie erwartete, spannte sich jeder Muskel an. Aufgeschreckt hob Delia den Kopf und blickte dem Trüppchen Steuerbeamter auf den Klippen entgegen. Noch ein paar Pferdelängen weiter, und sie sähen, was am Strand vor sich ging.
Kit unterdrückte einen Fluch und sah zum Beobachterposten hinüber. Er musste die Männer doch sehen? Ein kleiner Feuerstrahl war die Antwort gefolgt von einem Schuss, der im Dröhnen der Brandung unterging. Kit hatte den Schuss gehört, Jack und seine Männer offenbar aber nicht, ebenso wenig wie die Steuerbeamten.
»O Gott.« Unentschlossen und verzweifelt saß Kit auf. Der Wachtposten konnte von seinem Standpunkt aus unmöglich nahe genug an die Männer herankommen, um sie zu warnen, bevor die Fahnder sie erreichten. Männer zu Fuß hatten keine Chance gegen berittene Truppen mit Säbeln und Pistolen. Die Alternative war klar: Kit konnte die Bande warnen oder tatenlos ihrer Vernichtung zusehen.
Delia brach aus der Baumgruppe hervor und lief geradewegs den nächsten Pfad zum Strand hinab. Innerhalb von Sekunden waren sie unten und flogen über den Sand auf die Männer bei den Booten zu.
Jack übernahm ein weiteres Fass von Noah und watete langsam ans Ufer. Die Flut stieg, der Sand trieb unter seinen Füßen. Schaum und Gischt verdeckten den Blick auf die Klippen. Das Brüllen der Wogen übertönte jedes andere Geräusch. Das allerdings war nicht der Grund für Jacks finstere Miene. Er machte sich Sorgen wegen Kit.
Nicht einmal George wusste von ihrer Drohung, den Aktivitäten der Bande ein Ende zu setzen; die Information war zu lebensbedrohlich, um sie mit jemandem, und sei es sein bester Freund, teilen zu können. Aber mit jeder Stunde, die verstrich, verstärkte sich das Gefühl, dass sich ein Unwetter zusammenbraute, dass das Schicksal sie und ihn ereilen würde. Und er wusste nicht, wo sie war, geschweige denn, was sie trieb.
Matthew war mit der beunruhigenden Nachricht vom Schloss gekommen, dass sie dort war, ihm aber wieder durch die Netze geschlüpft war. Dass sie so wild entschlossen war, Lord Hendon aufzusuchen, beunruhigte Jack zutiefst. Wenn sie den Hochkommissar nicht erreichte, würde sie sich dann an jemand anderen wenden? Jack hob das Fass auf den Rücken eines Packpferdes und wünschte sich, er könnte sich genauso einfach seiner Sorgen entledigen wie dieses Fasses.
Aus den Augenwinkeln
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