Ungezaehmte Nacht
erfrieren könnte. Nicolai würde sie suchen und sie finden. Sowie er Francesca bei ihrem Bruder vorfand oder ihr leeres Bett sah, würde er auf der Suche nach ihr, Isabella, das ganze castello auf den Kopf stellen, und dann würde er sie finden. Zumindest klammerte sie sich an den Gedanken.
Ganz bewusst vermied sie es, in den schwarzen Schlund des inzwischen stockfinsteren Gebäudes zu blicken, weil sie das beunruhigende Gefühl hatte, aus dem finsteren Inneren von Hunderten von Augen angestarrt zu werden. Jedes Mal, wenn ihr Blick versehentlich in diese Richtung glitt, bewegten sich beängstigende Schatten, und sie wandte den Blick schnell wieder ab. Nur endlose Stille erstreckte sich vor ihr. Sie hasste diese absolute Geräuschlosigkeit, weil sie ihr viel zu deutlich zu Bewusstsein brachte, wie ihre Zähne klapperten und wie allein sie war.
Dann erregte eine kaum merkliche Bewegung ihre Aufmerksamkeit, und ihr blieb fast das Herz stehen, als sie sich umdrehte und ins Dunkel spähte. Da! Da war es wieder, das Geräusch, und diesmal klang es wie viele winzige, dahinflitzende Füße. Vor Entsetzen begann Isabellas Herz so laut zu schlagen, dass sie es in ihren eigenen Ohren hörte. Vorsichtig streckte sie eine Hand nach der Laterne aus, und als ihre Finger sich darum schlossen, hob sie die Lampe höher, in der Hoffnung, ihren Lichtkreis zu vergrößern.
Und da sah sie sie: ganze Rudel dicht behaarter kleiner Körper, die über die Regale liefen. Ein unkontrollierbares Erschaudern durchlief sie. Isabella hasste Ratten. Im Dunkeln konnte sie ihre blinkenden schwarzen Augen auf sich gerichtet sehen, und obwohl die lichtscheuen Tiere sich eigentlich von der Laterne hätten abwenden müssen, rannten sie immer weiter auf sie zu.
Isabella merkte, wie aufgeregt die Ratten waren und dass sie offenbar vor einem Raubtier flohen. Und trotz ihrer eigenen Furcht vor diesen Nagern jagte ihr das, wovor die Tiere flohen, noch weitaus mehr Angst ein. Die Ratten flitzten um ihre Füße herum auf irgendein Loch zu, das sie nicht sehen konnte, und Isabella schrie auf, als sie in wilder Flucht über ihre Schuhe rannten und dabei ihre Knöchel streiften. Mit zitternder Hand hob sie die Laterne noch höher und starrte in das dunkle Gebäude, um zu sehen, was die Ratten so in Panik versetzt hatte.
Und erst da ging ihr ein Licht auf. Sosehr sie auch vor diesen Nagetieren auf der Hut war, hatte sie vorher trotz all der Getreide- und Lebensmittelvorräte in den Vorratskammern höchstens eine Hand voll von ihnen gesehen. Eigentlich hätte es hier von ihnen nur so wimmeln müssen. Ihr Mund war vor Angst wie ausgetrocknet, als sie die Lampe noch höher hielt. Warum gab es hier nicht mehr Ratten und Mäuse? Wo könnten sie alle sein? Und was hatte ihnen mehr Angst eingejagt als ihre Laterne, sie mehr erschreckt als ein Mensch?
Eine Katze jaulte und stieß einen schrillen Schrei aus, der fast so klang wie der einer Frau in panischem Entsetzen. Eine andere Katze beantwortete ihn. Dann eine weitere. Schließlich waren es so viele, dass Isabella befürchtete, das ganze Gebäude sei vollkommen von Katzen überlaufen. Um das zunehmend lautere Geschrei der Tiere auszublenden, hielt sie sich mit der freien Hand ein Ohr zu. Dabei geriet die Laterne jedoch gefährlich ins Schwanken und flackerte und zischte, sodass Isabella den Atem anhielt aus Furcht, ihr einziges Licht würde erlöschen. Als sie die Lampe vorsichtig wieder in die richtige Stellung brachte, brach Streit unter den Katzen aus, die sich gegenseitig mit den Krallen bearbeiteten und fauchten und schrien wie halb verhungerte Tiere, die verzweifelt Futter suchten.
Die Augen der herumstreifenden Katzen glühten in der Dunkelheit. Eine sprang auf die Regale über Isabellas Kopf und streckte fauchend die Krallen nach ihr aus.
Entsetzt drückte Isabella sich mit dem Rücken gegen die Tür, um außer Reichweite des Tieres zu bleiben. Die Katze zischte sie mit wütend angelegten Ohren an und ließ sie ihre langen, scharfen Krallen und nadelscharfen Zähne sehen. Obwohl das Tier lächerlich klein war, verglichen mit einem Löwen, war es trotzdem nicht ganz ungefährlich. Die Katze fauchte böse, und ihre Augen waren nicht weniger wild als die ihrer sehr viel größeren Verwandten. Ohne jede Vorwarnung sprang sie mit ausgestreckten Krallen von dem Regal und auf Isabellas Gesicht zu. Sie schrie und schlug mit der Laterne nach der Katze, traf etwas Solides und schleuderte das Tier von sich. Für
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