Ungezaehmtes Verlangen
erklären, ob sie sich vor irgendetwas fürchten musste. Er würde auch dafür sorgen, dass sie in Sicherheit war.
Der Gedanke baute sie auf. Hoppla! Wie war das passiert? Wie konnte sich Lyon in wenigen Stunden von einem Furcht einflößenden Fremden in ihren Beschützer verwandeln?
War er das aber wirklich? Oder spielte er bloß wieder mit ihren Gefühlen, diesmal aus der Ferne?
Sie ließ nicht zu, dass ihre Fantasie mit ihr durchging, und rannte jetzt nicht wie ein ängstliches kleines Mädchen aus dem Zimmer. Nicht dass ihre augenblickliche Situation keinen Anlass zur Unruhe gegeben hätte, aber nur weil sie Angst vor dem Ungewissen hatte, hieß das noch nicht, dass ihr das Unheil auch tatsächlich im Nacken saß.
Und außerdem: Sie war ja noch im Nachthemd, um Himmels willen! Und es musste schon spät sein. Sie sah sich nach einer Uhr um. Beinahe fünf. Nachmittags, vermutete sie. Sie hatte den ganzen Tag geschlafen.
Kara nahm den Kulturbeutel aus ihrem Koffer und trat in das Badezimmer, das sich an ihr Zimmer anschloss. Doch obwohl sie sich sagte, dass sie sich vor nichts zu fürchten brauchte, ließ das ungute Gefühl keineswegs nach. Sie duschte in Rekordzeit und wiederholte unablässig einen Namen.
Lyon.
*
Eine Viertelstunde später stieg Kara überaus wachsam die Treppe hinunter und folgte dem Geräusch männlicher Stimmen, die sie aus einem Winkel des Hauses vernahm. Während des Duschens hatte sich das seltsame Gefühl, bedroht zu werden, abgeschwächt und dann wieder verstärkt. Es hatte ihr einen eisigen Schauer über die Haut gejagt und ihren Puls zum Rasen gebracht, sich dann aber wieder gelegt. Dieser Zustand hielt nun weiter an. Sie hoffte, dass sie einfach nur paranoid war, und betete, dass ihr Lyon auf die Frage, ob sie sich vor irgendetwas fürchten musste, antworten möge: Nein, natürlich nicht. Dann würde er sie den anderen Kriegern vorstellen, die alle so nett und charmant wie Tighe wären und ihr das Haus zeigten, zu dem ein Schwimmbad oder eine Gartenlaube oder etwas ähnlich Luxuriöses gehörte. Dann würde sie über ihre vollkommen unbegründete Sorge lachen.
Sie hoffte wirklich sehr, dass es so käme, denn im Augenblick wäre sie am liebsten weggerannt und hätte erst aufgehört zu laufen, wenn sie den Mississippi überquert hatte.
Als sie den bemalten Boden der Eingangshalle erreichte, stieg ihr der Geruch von gebratenem Schweinefleisch in die Nase, woraufhin ihr leerer Magen laut knurrte. Sie war gestern Nacht gar nicht dazu gekommen, die Suppe zu essen, und hatte also lange nichts mehr zu sich genommen. Ihr Unbehagen wurde kurzzeitig von Hunger überlagert. Vielleicht war Lyon ja in der Küche. Und wenn nicht? Sie würde sich einfach etwas zu essen nehmen und ihre Suche anschließend fortsetzen.
Bei diesem Geruch lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Er schien aus derselben Richtung zu kommen wie die Stimmen. Aus einem langen, breiten Flur, in dem noch mehr Gemälde hingen. Je weiter sie ihn hinunterging, umso deutlicher wurden die Stimmen.
»Ich mach dich fertig, du Hund.«
»Nenn mich nicht Hund .«
»Heute um Mitternacht. Vor den Zellen. Keine Messer.«
Der zweite Mann knurrte. »Abgemacht.«
»Schwachköpfe«, sagte eine dritte Stimme, in der Kara Tighe wiederzuerkennen glaubte. »Wenn sie ausschwärmen, seid ihr beide erledigt.«
Kara trat in den Eingang eines geräumigen Saales mit großen Fenstern. Draußen tropfte der Regen von den Knospen der Bäume, der graue Himmel dämmerte bereits. Die Innenwände bedeckten grellbunte Tapeten mit blau-goldenen Vögeln, die von Kronleuchtern angestrahlt wurden. Diese waren zwar nur halb so groß wie jene in der Halle, aber nichtsdestotrotz groß. An einem Tisch, der so aussah, als hätte man ihn aus einem alten französischen Königshof entwendet, hockten vier hünenhafte Männer. Sie aßen und unterhielten sich so natürlich und locker, als säßen sie in einer rustikalen Küche und nicht in einem überaus offiziellen Speisesaal.
»Lass sie doch ausschwärmen«, sagte der erste Mann. Sie konnte ihn jetzt sehen, denn er saß direkt gegenüber dem Eingang. Ein wirrer Schopf roter Haare umrahmte ein jungenhaftes Gesicht voller Sommersprossen. »Wulfe und ich gehen auf die Jagd, nicht wahr, mein Freund?«
»Ich bin nicht dein Freund.«
Als der Rothaarige aufsah und sie entdeckte, erhob er sich und drängte die anderen, es ihm gleichzutun. Kara spürte, wie sie errötete. Sie kannte nur Tighe, der selbst jetzt eine
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