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Ungleiche Paare

Titel: Ungleiche Paare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Bittrich
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anderen Bahnen. Wir spürten, wie sie in den Zellen vibrierte. In halluzinatorischer Hellhörigkeit lauschten wir dem Drehen der Doppelhelix im Zellkern und hörten das Reiben der Spindelfasern. In winzigen knisternden Explosionen dehnte sich die nukleare Ladung als Wärmeflut über die inneren Flussbetten aus und erreichte noch die feinsten Härchen der Oberfläche. Der magnetische Strom kreiselte heiß das Rückgrat aufwärts und überschwemmte das Gehirn, bis dessen gefurchte Landschaften eine einzige gleißende Fläche bildeten. Wir badeten in den Farbenfluten und ließen uns durch die inneren Säle spülen.
    Gelegentlich tasteten wir mit flimmernden Händen den Körper ab, von weit her, von außen. Die Finger trugen uns zuweilen auch dorthin, wo gewöhnlich die Unruhe gesummt hatte, früher. Da war nun Schlummer zugunsten raumgreifender Träume. Taubheit. Ewige Ruhe.
    Bis Jakobs Schwester ihre Freundinnen mitbrachte.
    Erst war es nur eine Gleichaltrige, die schüchtern an derTür stehen blieb und sich dann auf die Stufen setzte und bis zum Morgen sitzen blieb. Danach eine, die bereits immatrikuliert war, eine Studentin wie wir, nur fuhr sie tatsächlich gelegentlich zur Uni. Sie wirkte sonderbar unberührt. Auch die anderen kamen aus den Elbvororten oder sahen jedenfalls so aus: mit makellosen Röcken oder Designerjeans, Markenpolos und sauberen Blusen, mit Perlenketten, geputzten Schuhen und ererbten Ringen, die sie wie Wunschringe drehten.
    Sie tauchten auf und flüsterten ihre Namen, von denen ein süßer Klang weiterschwebte, als der Wortlaut schon verweht war. Mit ihnen sickerte Helligkeit in den Raum. Sie sogen die verrauchte Dunkelheit ein und atmeten Licht wieder aus. Sie sprenkelten mit ihrem Liebreiz die Sperrmüllsofas und warzigen Sessel und die spärlich gesäuberten Böden und Tischplatten.
    Sie brachten Anmut und Zartheit. Beides gehörte nicht zu uns; wir lehnten so etwas ab, weil wir glaubten, wir hätten es nicht verdient. Nun ließen wir das Wunder über uns ergehen. Sie hockten sich an unsere Matratzen wie duftende weiße Vögel. Sie waren gefiederte Engel. Es sei denn, es handelte sich um barmherzige Krankenschwestern und wir lagen in einem Militärlazarett, in der zugigen Baracke für aufgegebene Fälle. Dann hatten wir den Transport auf der rostigen Ladefläche nur nicht bemerkt.
     
    Die Abgestürzten aller Länder der Erde reiben sich die Augen, wenn der Himmel sich auftut und eine Heilige erscheint. Irgendwann taucht sie unweigerlich auf. Sie sitzt als Zuschauerin im Gerichtssaal, während der Geiselgangster verurteilt wird, verliebt sich in ihn und setzt die Revisiondurch. Geheiratet wird durch die Gitter. Oder er ist ein tobender Bär, und sie heißt Schneeweißchen oder Rosenrot und ist bereit, ihn zu heilen und sich hinzugeben. Prompt verwandelt er sich in einen Prinzen. Sie hat es geahnt.
    Der Desperado der Pariser Oper, das sogenannte Phantom, taumelt in Verwunderung und Gnade, als ein engelsgleiches Chormädchen sich seiner erbarmt: »Ich bin es nicht wert und werde doch geliebt.« Das Mädchen stört sich nicht an seinem Aussehen, dem eines Opiumrauchers, mit fahlem Gesicht, eingesunkenen Wangen, pergamentener Haut. Im Gegenteil. Die Schöne will das Tier.
    Der grausame König der Insel, der barbarische King, genannt Kong, wird von Schluchzen geschüttelt, als eine feenhafte Blondine ihn erleuchtet. Sie ist zum Opfer bereit. Sterbend findet er, wie es in der amerikanischen Ausgabe heißt, »peace of mind« . Die zornigen, einsamen Drachen aller Berge und Märchen verlangen nach Jungfrauen, nach wenigstens einer pro Jahr, dann herrscht Frieden. In der alpinen Sage von der schwarzen Spinne lässt eine unbescholtene Maid sich vom Teufel küssen, um das Dorf von Plagen zu befreien. Jeremias Gotthelf hat den Stoff bis an seine Quellen zurückverfolgt und festgestellt, dass die Jungfer sich keineswegs widerwillig küssen ließ, sondern schmachtend und hingebungsvoll, zumal der Teufel sich als schmucker Jäger näherte.
    Dergleichen frühe Gothic Partys müssen häufiger vorgefallen sein. Bis zum Zeitalter der Aufklärung sind in deutschsprachigen Gerichtsbüchern nicht weniger als elfhundert Fälle verzeichnet, in denen Jungfrauen behaupten, auf einsamem Kreuzweg dem Leibhaftigen begegnet zusein. Rosig vor Aufregung, mit zerdrückten Kleidern und fliegendem Atem kehren sie heim. Nach eigener Auskunft ist es ihnen gerade noch gelungen, dem Glutäugigen mit Hilfe des Kruzifixes ein

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