Unguad
Kurs ging Bärbel Lehner wie üblich mit mir nach draußen.
Wir unterhielten uns über die Erfahrungen, die wir eben gemacht hatten, und
tauschten uns aus. Heute erschien sie mir bedrückt, und ich fragte sie, ob sie
Kummer hätte.
»Ach, ich muss immer an Frau Mayer denken. Das war eine Frau auf der
vierten Station, die ich öfter besucht habe. Sie war sehr belesen und an vielem
interessiert. Wir haben uns gut unterhalten. Leider war sie furchtbar krank und
seit einiger Zeit bettlägerig. Vorgestern Nacht ist sie gestorben.
Wahrscheinlich mache ich mir etwas vor, und ich bin ja auch kein Arzt, aber für
mich kam ihr Tod unvorhersehbar. Erst einen Tag davor war ich bei ihr, und wir
haben über vieles geredet. Da war sie noch ganz munter.« Bärbel wischte sich
verstohlen eine Träne aus dem Auge.
Ich legte ihr eine Hand auf den Arm. »Das tut mir leid«, versuchte
ich sie zu trösten. »Aber das ist wahrscheinlich die Kehrseite von deinem
Engagement. Du schließt deine Bekannten ins Herz, es ist jedoch absehbar, dass
es bald mit ihnen zu Ende geht.«
»Da hast du wohl recht, Karin. Damit muss man bei der Arbeit in
einem Altenheim rechnen.« Sie seufzte tief. »So ist das Leben.«
»Ja, so ist das Leben.«
Donnerstag, den 18. Juni
Null Uhr dreißig
Adam Hecker saß im Schwesternzimmer und las Zeitung. Es war halb
ein Uhr nachts. Wie so oft um diese Uhrzeit hatte er Dienst. Nachtdienst war
unbeliebt und daher auch besser bezahlt. Und er hatte nicht so viel mit den
Alten zu tun. Schließlich schliefen sie. Sollten sie zumindest. Nur ein
bisschen Urinbeutel leeren. Eine Schlaftablette verabreichen. Unangenehm waren
die geistig Umnachteten, die Alpträume bekamen. An Vollmond war es am
schlimmsten. Aber inzwischen wusste er schon, wen er noch ein wenig länger
schreien lassen konnte.
Heute war jedoch kein Vollmond. Also versprach die Nacht ruhig zu
werden.
Neun Uhr neunundzwanzig
Am nächsten Vormittag marschierte ich erneut ins Altenheim. Ich
drängelte mich am Wagen des Installateurs vorbei, der unübersehbar direkt vor
der Eingangstür parkte. Die Handwerker waren zwar nirgends zu sehen, dafür
hörte man durch die gekippten Kellerfenster wuchtige Schläge auf metallene
Hohlkörper. Es wurde gearbeitet. Polizeiwagen entdeckte ich keinen, allerdings
ein schickes silberfarbenes Mini Cooper Cabrio mit Münchner Nummer. Die fiel
unter all den Passauer » PA «-Kennzeichen
sofort auf. Auf seiner Heckklappe prangte der Aufkleber »Polizei – Dein
Partner«. Dezent, allerdings nicht inkognito.
Als ich das Haus durch die massive Eingangstür betrat, erkannte ich
auch den Grund für den Münchner Wagen. Die Kommissarin war da. Ihr wird der
kleine Flitzer gehören, dachte ich. Sie sprach gerade mit der Heimleiterin Frau
Imhoff. Und sie schienen sich nicht allzu sehr ins Herz geschlossen zu haben.
Hören Sie selbst:
»Das geht überhaupt nicht, dass Sie jeden Tag hier aufkreuzen, die
Leute verhören und alles durcheinanderbringen. Ich muss schließlich darauf
achten, dass wieder Ruhe und Ordnung einkehren. Außerdem bringen uns Ihre
Polizeiwagen vor der Tür in ein schlechtes Licht bei Besuchern und Bevölkerung.
Ich …« Frau Imhoff hätte sicher noch viel zu sagen gehabt. Aber Kommissarin
Langenscheidt kannte diese Litanei wohl schon zur Genüge und konnte sie nicht
mehr hören.
»Frau Imhoff, wie Sie bereits wissen, ermitteln wir in einem
Mordfall. Deshalb verstärken wir unsere Präsenz. Im Rahmen der Ermittlung
befragen wir Bewohner, Angestellte und Besucher. Wenn Ihnen das nicht passt,
kann ich auch alle zu vernehmenden Personen in die Passauer
Kriminalpolizeiinspektion einbestellen. Dann werden Sie sehen, wie Ihr Betrieb
hier gestört wird.«
Also doch Mord! Ich hab’s gewusst! Ha! Sie machte es sehr gut, die
Frau Kommissarin. Freundlich, sachlich, bestimmt und keinen Jota von den
Vorschriften abweichend. Meinen Respekt hatte sie. Noch nie hatte ich gesehen,
dass die Imhoff so schnell klein beigegeben hatte. Ich unterdrückte ein
schadenfrohes Grinsen, wandelte es in ein Begrüßungslächeln um, nickte den
beiden Damen zu und wollte mich vorbeidrücken.
»Ah, Frau Schneider. Gut, dass ich Sie treffe. Mit Ihnen wollte ich
eh reden. Haben Sie kurz Zeit? Frau Imhoff, ich nehme wieder Ihr Büro.« Keine
Bitte, keine Frage, eine Feststellung. Taffe Frau, das musste ich schon sagen.
Die Imhoff kniff ihre Lippen zusammen und öffnete mit einer gnädigen
Geste ihre Bürotür. Das konnte jedoch niemanden
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