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Unguad

Unguad

Titel: Unguad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Werner
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ihre
Schultern und warf ihren Zopf nach hinten. Mit festen Schritten hastete sie auf
die Hofausfahrt zu.
    Sie waren nur noch zwei Armlängen voneinander entfernt. Hecker
streckte seine Hand aus, wollte sie aufhalten. Ängstlich klammerte Anna sich an
die Haltegriffe ihres Beutels und versuchte auszuweichen. Hecker grinste und
machte einen Ausfallschritt auf die gleiche Seite. Dieser Tanz bereitete ihm
Vergnügen.
    Eine Fahrradklingel. In rasantem Tempo düste ein Radler auf den
Parkplatz, bremste vor den beiden ab, das Vorderrad schob sich in den engen
Spalt zwischen ihnen. Erschrocken sprangen beide einen Schritt nach hinten.
    »Hey!« Linus hatte vom Fahrtwind gerötete Wangen und strahlte Anna
an. Sie fand, er hatte nie besser ausgesehen. Mein Gott, war sie froh, dass er
da war!
    »Hey.« Annas Augen leuchteten. Mit einer vorsichtigen Andeutung von
Schadenfreude sah sie auf Hecker. Linus folgte ihrem Blick.
    »Hallo, Herr Hecker. Schön, Sie zu sehen. Kann ich Ihnen irgendwie
helfen?« Sein jugendlicher Übermut ließ ihn den anderen provozieren.
    Der fauchte mit bitterbösem Gesicht einen undefinierbaren Laut und
stieß mit dem Fuß den Reifen zur Seite. Sein Ellenbogen rempelte Anna an, als
er ins Haus stürmte.
    Sie seufzte hörbar. »Bin ich froh, dass du gekommen bist. Gerade zur
rechten Zeit. Danke!«
    »Klar«, erwiderte Linus stolz. Es war zwar nur Zufall gewesen, aber
man musste glückliche Umstände für sich zu nutzen wissen. »Musst du gleich nach
Hause oder machen wir was zusammen?«
    Anna sah verlegen zu Boden. »Ich hab schon noch ein wenig Zeit.« Ein
scheuer Blick hinauf zu ihm. Linus fühlte sich großartig. Die Sache mit Anna
entwickelte sich prächtig.
    »Steig auf. Wir fahren an die Rott, okay?« Er drehte sein Fahrrad um
und hielt es wieder für sie fest. Anna schwang sich auf den Gepäckträger,
stopfte ihren Rock unter ihren Po, damit er sich nicht in den Speichen verfing,
und hing sich ihre Tasche quer um den Hals. Es konnte losgehen.
    Nicht weit von Kirchmünster entfernt schlängelt sich die Rott durch
die Landschaft. Wunderbarerweise ist sie in weiten Teilen weder begradigt noch
kanalisiert. Sie entspringt in der Gemeinde Wurmsham, fließt durch das Rottal –
woher der Name nur stammt? – und mündet nach gut hundert Kilometern bei
Schärding im Inn. Sie ist kein lebendiger, reißender Strom, sondern bummelt
gemütlich dahin. So gemütlich wie die Bewohner dieser Gegend eben auch sind. In
den Windungen steht das Wasser fast still, und Seerosen strecken müßig ihre
rosaroten Köpfe ins Licht. Zwischen den melancholischen Ästen der Trauerweiden
warten menschengroße Waller. Ein Biotop vor der Haustür. Da die Rott manchmal
bei Hochwasser über die Ufer tritt, haben sich Auen gebildet. Fischreiher stehen
dort auf einem Bein dekorativ in der Landschaft. Eine dieser Auwiesen befand
sich ganz in der Nähe. Dort fuhren die beiden Jugendlichen hin.
    Linus lehnte sein Rad an eine Birke, nahm Anna bei der Hand, und sie
liefen durch das hohe Gras zum Ufer. Die Sonne schien, Schmetterlinge kreuzten
ihren Weg, Vögel tschilpten, es war zum Aus-der-Haut-Fahren idyllisch. Sie
sprangen die kleine Uferböschung hinab und setzten sich auf einen umgefallenen
Baumstamm.
    Das soeben Erlebte hatte die natürliche Grenze zwischen ihnen
weggewischt. Linus hielt ganz selbstverständlich Annas Hand. Sie saßen nah
beieinander und erzählten. Linus hatte sich in der Anna-losen Zeit Fragen
überlegt. Aber bald brauchten sie diese künstlichen Ermunterungen nicht mehr.
Das Gespräch plätscherte dahin wie das Wasser im Flussbett.
    Sechzehn Uhr dreißig
    Eigentlich hatte ich weder Lust noch Zeit, im Heim
vorbeizuschauen, aber ich wollte vor der Grillparty heute Abend dieser
Tablettensache auf den Grund gehen. Ohne meine Eltern zu besuchen, begab ich
mich direkt zum Schwesternzimmer. Ich musste mir eh gut überlegen, wie ich es
meinem Vater beibringen könnte, warum sein jugoslawischer Schachfreund der
Mörder von Elvira war. Das sollte ihm bitte jemand anderes erzählen.
    Im Stationszimmer saßen der Hecker und Schwester Sieglinde
beisammen. Bei meinem Anblick bekam der Pfleger ganz schmale Augen, stand auf
und schlurfte betont langsam zur Tür. Ich machte ihm Platz. Als er an mir
vorbeikam, stieß er einen leisen Zischlaut aus. Ich zuckte vor Schreck. Ja, ich
hatte Angst vor ihm.
    Schwester Sieglinde schien nichts gehört zu haben. Ich nahm mich
zusammen und betrat das Zimmer. Ich hatte mir schon während der

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