Unheil
sagte Trausch. »Ich kann mir vorstellen, wie Sie
sich jetzt fühlen, Conny, und ich erwarte nicht, das Sie mich jetzt verstehen.
Aber dieser Kerl wird nicht aufhören. Er wird weiter auf ihrem Leben
herumtrampeln, und wenn wir ihn nicht aufhalten, dann wird es vielleicht noch
mehr Tote geben. Wollen Sie das?«
Conny spürte zwar, wie sie ganz automatisch den Kopf schüttelte,
doch die Bewegung erfolgte rein mechanisch, kaum mehr als ein Reflex, der
nichts mit ihren wirklichen Gefühlen zu tun hatte. Sie war nicht einmal sicher,
was sie auf seine Frage geantwortet hätte, wäre sie imstande gewesen, es zu
tun. Natürlich wollte sie nicht, dass noch mehr Menschen starben ⦠aber sie war
plötzlich auch nicht mehr sicher, ob sie wirklich wollte, dass es nicht geschah. Die Wahrheit war: Es war ihr egal. Zeit
ihres Lebens war ihr Gerechtigkeitssinn eine ihrer stärksten Triebfedern
überhaupt gewesen; sicherlich der Grund, aus dem sie diesen Beruf gewählt
hatte, aber auch ganz selbstverständlich ein Teil ihres Selbst. Und plötzlich
erschien ihr alles, was bisher von Wert für sie gewesen war, vollkommen
bedeutungslos. Vierzig Jahre ihres Leben zerbröckelten einfach in ihren Händen,
ohne dass sie imstande war, auch nur ein einziges dieser Bruchstücke
festzuhalten oder es auch nur zu wollen.
»Vielleicht sollten Sie jetzt doch besser nach Hause gehen.«
Sie öffnete die Augen, blinzelte Trausch durch einen sonderbaren
Schleier hindurch an und begriff erst, dass sie ihren Tränen offensichtlich
freien Lauf gelassen hatte, als sie das Päckchen Papiertaschentücher sah, das
er ihr hinhielt. Dankbar griff sie danach und zupfte eines der Tücher heraus,
schüttelte zugleich aber auch den Kopf,
»Es geht schon, keine Sorge. Ich will jetzt nicht allein sein.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete er. »Wir können irgendwo einen
Kaffee trinken gehen, wenn Sie möchten. Nicht hier, sondern irgendwo, wo es
gemütlicher ist.«
Conny wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und benutzte das halb
aufgeweichte Kleenex auch noch, um sich ausgiebig zu schnäuzen. »Das dürfte
nicht schwer sein«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Es ist so ziemlich
überall gemütlicher als hier.«
Sie warf das Taschentuch in Richtung des Papierkorbs, in dem schon
seine Schlinge und das zerrissene Hemd gelandet waren, verfehlte ihn, und
Trausch bückte sich wie ganz selbstverständlich danach. Noch vor einer Minute
hätte sie sich über diese kleine Geste gefreut, zumal sie wusste, wie penibel
er in allem war, was mit Hygiene zu tun hatte. Dennoch ertappte sie sich jetzt
bei der hässlichen Frage, wie viel von allem, was er in den letzten Tagen getan
und gesagt hatte, möglicherweise pure Berechnung gewesen war. Vielleicht alles?
Aber sie hatte sich immerhin wieder gut genug unter Kontrolle, um sich nichts
davon anmerken zu lassen, sondern ganz im Gegenteil schon wieder mit einem
dankbaren Lächeln zu reagieren und nur ein zweites Tuch aus der Packung zu
nehmen; diesmal allerdings nur, um es zwischen den Fingern zu kneten.
»Alles in Ordnung?«, fragte Trausch.
»Kein Problem«, versicherte Conny. Sie fuhr sich noch einmal mit dem
Handrücken über die Augen â er blieb trocken â und fuhr mit veränderter und
deutlich festerer Stimme fort: »Also, was haben wir?«
Ganz, wie Sie wollen, signalisierte
Trauschs Blick. »Nicht besonders viel«, antwortete er. »Solange wir nicht
wissen, wer die beiden Kerle von vorhin waren, sind wir auf Vermutungen
angewiesen ⦠aber wann wäre das jemals anders gewesen?«
»Sie wissen immer noch nicht, was mit Aislers Leiche geschehen ist?«
»Sie ist weg«, antwortete er und zog eine Grimasse. »Und damit hört
es auch schon beinahe auf.«
»Nichts auf den DVD s?«, fragte Conny
zweifelnd.
»Nicht das Geringste.« Trausch klang frustriert. »Wer immer die
Aufnahme auch manipuliert hat, wusste, was er tut.«
»Haben Sie mir nicht erzählt, er hätte sich ziemlich dilettantisch
angestellt?«
»Selbst der gröÃte Dummkopf kann eine Taste drücken«, antwortete er.
»Dieser ganze Laden ist ein einziger Sauhaufen! Ich wundere mich beinahe, dass
sie nicht die gesamte Friedhofsszene eingeladen haben, um sich dort mit
Souvenirs zu versorgen. Die Sache wird Folgen haben, verlassen Sie sich
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