Unheil
Augen war das staubige
Halbdunkel, das hinter der Tür herrschte, eine Wohltat, aber sie war zunächst
auch so gut wie blind; und als ihre Augen sich nach ein paar Sekunden
umgestellt hatten und aus verschwommen Umrissen und verwaschenen Farben wieder
Dinge und Bilder wurden, gefiel ihr ganz und gar nicht, was sie sah: Von auÃen
hatte das Haus einen sehr gepflegten und durchaus modernen Eindruck gemacht,
und auch hier drinnen war alles pieksauber und penibel aufgeräumt, aber
irgendwie schien die Zeit stehen geblieben zu sein, und das auf eine ganz und
gar unangenehme Art. Die Einrichtung â bis hin zu den Tapeten â stammte aus den
Sechziger- oder vielleicht sogar Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts.
Auf dem Garderobenschrank â zwanzig Jahre altes Eiche-Rustikal-Furnier, das
immer noch aussah wie neu â lag ein umhäkeltes Brokatdeckchen. An der dem Eingang
gegenüberliegenden Wand und so aufgehängt, dass kein Besucher eine Chance
hatte, ihrem Anblick zu entgehen, hingen ein schlichtes Holzkreuz und ein in
goldfarbenes Plastik gerahmtes Marienbildchen, und als Theresas Mutter die Tür
hinter ihr schloss, wurde sie vom typischen Geräusch einer Kuckucksuhr begrüÃt.
Conny sagte nichts zu alledem, sondern wartete schweigend und geduldig, bis die
zierliche Frau an ihr vorbeiging, und folgte ihr dann in ein zwar deutlich
gröÃeres, aber auf die gleiche Art eingerichtetes Wohnzimmer. Die Möbel konnten
nicht wirklich sehr viel jünger sein als ihre Besitzer, waren aber keine
Antiquitäten, sondern einfach fünfzig Jahre alte Kaufhausware. Auf dem auf
Hochglanz polierten Parkett lag ein ganzes Sammelsurium bunter Läufer, damit
niemand auf dem glatten Holz ausrutschte (oder es gar mit der Berührung seine
Schuhsohlen beleidigte), und an den Wänden hingen geprägte Seidentapeten von
einer selten unangenehmen, graugrünen Farbe, die sie an Erbrochenes erinnerte.
Der durchdringende Geruch nach Möbelpolitur hing in der Luft und versuchte
vergeblich, den auch hier herrschenden Zigarrengestank zu überdecken. Der
Fernseher lief mit abgeschaltetem Ton. Der einzige Lichtblick â wortwörtlich â
war der der gegenüberliegenden Wand, die fast komplett aus einem einzigen
groÃen Fenster bestand und in einen überraschend weitläufigen, von zehn Meter
hohen Tannen eingerahmten Garten samt Grillpavillon und einer ganzen Armee von
sorgsam arrangierten Gartenzwergen hinausführte. Der Rasen sah aus, als hätte
man ihn mit einer Nagelschere geschnitten, und Conny würde sich nicht wirklich
wundern, sollte sich herausstellen, dass es tatsächlich so war.
»Mein Mann.« Theresas Mutter deutete auf einen vielleicht
fünfzigjährigen, grauhaarigen Mann von kräftigem Wuchs, der einen
fadenscheinigen Jogginganzug und das Zwillingspärchen ihrer zerschlissenen
Hausschuhe trug und auf der Couch saÃ. In der rechten Hand hielt er eine
qualmende Zigarre, in der anderen ein halb volles Bierglas. Er blickte zu ihr
hoch, fragend und mit einem Gesichtsausdruck, der die Ãberlegung unnötig werden
lieÃ, ob ihm ihr Besuch angenehm war oder nicht, rang sich schlieÃlich zu einem
Nicken durch und schien dann unentschlossen zu sein, ob er an seiner Zigarre
ziehen oder von seinem Bier trinken sollte. Irgendwie gelang es ihm
schlieÃlich, beides nahezu gleichzeitig zu tun.
»Das ist Frau â¦Â«, begann Marianne Schneider, doch Conny unterbrach
sie.
»Ich bin Conny«, sagte sie. »Ihre Frau und ich haben uns im
Krankenhaus kennengelernt.«
»Ich weiÃ, wer Sie sind«, sagte Theresas Vater. Seine Stimme klang
sehr viel freundlicher, als sie erwartet hatte, aber sein Blick war es nicht.
»Sie sind die Polizistin, die Theresa das Leben gerettet hat.«
»Das stimmt«, sagte Conny leicht überrascht. »Woher �«
»Aus dem Fernsehen«, antwortete er. »Und aus den Zeitungen. Auch
wenn sie da anders aussehen.«
Conny fragte ihn nicht, was er genau damit gemeint hatte, sondern
deutete nur auf seine Frau. »Ihre Frau hat mich angerufen, weil sie Probleme
mit Tess haben?«
»Das hätte sie nicht tun sollen«, sagte Schneider. »Es tut mir leid.
Ich habe ihr gesagt, dass sie Sie nicht mit unseren Problemen belästigen soll.«
»Sie belästigen mich nicht«, antwortete Conny. »Es ist mein Beruf,
mich um die Probleme anderer zu kümmern. Ihnen zu
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