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Unheil ueber Oxford

Unheil ueber Oxford

Titel: Unheil ueber Oxford Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronica Stallwood
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ruhiges, etwas nervöses Mädchen. Ich benutze absichtlich den Ausdruck »Mädchen«, denn ihre Eltern hatten ihr nie gestattet, eigene Entscheidungen zu treffen und dadurch vom Mädchen zur jungen Frau heranzureifen.
    Ihre Eltern waren sehr einflussreiche Leute – der Vater ein ambitionierter Akademiker, die Mutter eine erfolgreiche, streitbare Anwältin, die häufig feministische Angelegenheiten vertrat und sich auf das Erstreiten finanzieller Unterstützung für verlassene Ehefrauen spezialisiert hatte. Die Eltern hatten hohe Ansprüche an Briony gestellt, die von der Tochter jedoch nie erfüllt wurden. Allerdings glaube ich, dass kein Einzelkind allen Ansprüchen seiner Eltern genügen kann. Als Kind war jede Minute in Brionys Leben verplant gewesen. Sie bekam Klavier- und Tanzstunden, lernte reiten, Fahrrad fahren, schwimmen und segeln. Auf keinem der Gebiete war sie eine Leuchte. Ihre schulischen Leistungen pendelten sich im unteren Klassenviertel ein, was dazu führte, dass die Eltern sie zu noch mehr Aktivitäten drängten. Briony dachte nur noch an Flucht.
    Weil Brionys Eltern ganz in ihren Berufen aufgingen, wurde das Haus von einem Mann in Ordnung gehalten, der fünf Mal in der Woche kam und auch putzte. Um den Garten kümmerte sich eine gewisse Doris Webster. Miss Webster war Künstlerin. Sie hatte eine Ausbildung in einer Londoner Kunstakademie absolviert und verfügte über einiges Talent, doch es war ihr nie gelungen, mit ihrer Malerei ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auch besaß sie keinerlei pädagogische Fähigkeiten und hatte überdies keine Lust, als Lehrerin zu arbeiten. Sie wechselte also zur Gärtnerei, wo sie ihre künstlerischen Eingebungen und möglicherweise auch ihren unbefriedigten Wunsch nach Mutterschaft dadurch kompensierte, gesunde, starke Pflanzen zu züchten und pittoreske Ausblicke zu kreieren.
    Doris Webster stellte für Briony alles das dar, was ihre Mutter nicht sein konnte. Ihr langsam ergrauendes Haar war meist nicht sehr ordentlich und wurde von ihr selbst ab und zu mit einer Haushaltsschere auf Ohrlänge gekürzt. Sie hatte wettergegerbte Haut und immer schmutzige Fingernägel. Im Sommer trug sie Jeans, im Winter Cordhosen und zu jeder Jahreszeit Männerhemden und dicke Arbeitsschuhe. Sie redete wenig, aber wenn sie es tat, dann war ihre Stimme so leise und freundlich, als wolle sie den Garten überzeugen, von selbst und ohne Zwang in die von ihr gewünschte Form zu wachsen.
    In Doris Websters Gesellschaft fühlte Briony sich wohl. Doris erwartete nichts von dem kleinen Mädchen; bei ihr bestand das Leben nicht mehr nur aus Konkurrenzkampf. Briony begann, beim Jäten zu helfen, und lernte, was sie auszupfen sollte und was nicht. Später durfte sie Gemüsebeete umgraben, Kletterpflanzen beschneiden und erfuhr, wie man Ableger schnitt und zum Wurzeln brachte. Sie lernte den Umgang mit Anzuchttöpfen, Frühbeeten und Gewächshäusern.
    Nachdem Brionys Abschlussnoten nicht für eine dem Geschmack ihrer Eltern angemessene Universität ausreichten, wurde das junge Mädchen auf eine Reise durch Europa geschickt und bei den unterschiedlichsten Studienfreunden der Eltern untergebracht.
    Briony studierte die Gärten ihrer Gastgeber.
    Als sie nach England zurückkehrte, war ihr Interesse womöglich noch gewachsen. Man schickte sie nach Amerika, doch statt sich den vorgesehenen Vorlesungen an der Universität zu widmen, verbrachte sie ihre Zeit mit den Gärtnern in den schön angelegten Parks der Hochschule und lernte noch mehr über Pflanzen und ihre Lebensweise.
    Schließlich beschlossen die Shorters, dass es für Briony höchste Zeit wäre, einen Beruf zu erlernen. Sie wurde auf eine Handelsschule geschickt, wo sie Steno, Tippen, den Umgang mit einem Computer und Buchhaltung lernte. Morgens saß sie im Klassenzimmer und übte Kurzschrift oder das Ausschneiden und Einfügen mit einem Textverarbeitungsprogramm, am Nachmittag streunte sie heimlich durch die Universitätsgärten und unterhielt sich mit den Gärtnern.
    Bei einer solchen Gelegenheit lernte ich sie kennen.
    Habe ich Briony schon beschrieben? Nicht?
    Sie war recht groß. Ihre zarte, biegsame Gestalt täuschte, denn immerhin grub sie viel und stemmte schwere Schubkarren, ganz zu schweigen vom Umgang mit Steinen und dem Anmischen von Zement. Sie hatte lange, schlanke Arme und kräftige Arbeiterhände mit schmutzigen Fingernägeln. Ihr kleines, rundes Gesicht zeigte immer einen argwöhnischen Ausdruck, als ob sie darauf

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