Unheil ueber Oxford
wartete, kritisiert zu werden. Sie hatte eine leise Stimme und traute sich keine eigenen Ansichten zu. Ich nehme an, sie war so sehr daran gewöhnt, dass ihre Eltern bei jeder Gelegenheit voller Selbstvertrauen ihre Überzeugungen aussprachen, dass sie es überflüssig fand, eigene Ansichten zu entwickeln, für die sich vermutlich sowieso niemand interessiert hätte.
» Deiner Beschreibung nach war sie ein armes , dummes Ding . Eigentlich völlig uninteressant .«
» Sie hatte ihre guten Seiten . So war sie zum Beispiel eine ausgesprochen beruhigende Gefährtin . Nie unterbrach sie mich oder zwang mir irgendwelche Ideen auf . Sie hörte mir immer aufmerksam zu , blickte mich bewundernd an , wenn ich sprach , und lächelte ihr geheimnisvolles Lächeln .«
» Nun , wenn du meinst . Ich fürchte , sie beginnt mich zu langweilen .«
Etwas fand ich besonders attraktiv an Briony: Es war ihr langes, blondes Haar, das sich über Schultern und Rücken wellte. Da sie sich ständig draußen aufhielt, hatte die Sonne helle Glanzlichter und Strähnen hineingezaubert. Es sah aus wie blasses Schildpatt. Ich liebte den Anblick, wenn es über die ausgebleichte Schulterpartie ihres Jeanshemdes fiel.
Außerdem will ich natürlich nicht verschweigen, dass mir durchaus bewusst war, wie reich Brionys Eltern waren. Allein das Haus nebst Garten und Pferdekoppeln war mindestens eine halbe Million Pfund wert. Beide Elternteile arbeiteten zudem weiterhin in ihren lukrativen Berufen. Sie waren so beschäftigt, dass sie kaum Zeit haben würden, das verdiente Geld auch auszugeben. Wer immer Briony heiraten würde, konnte wahrscheinlich eines warmen Geldregens sicher sein.
» Willst du mir etwa jetzt erzählen , dass es nicht so war? «
» Ich werde Ihnen alles über Briony und unser Leben in Oxford erzählen – allerdings auf meine Art und zu meiner Zeit .«
» Im nächsten Kapitel? «
» Schon möglich . Warten Sie es ab .«
Kate hatte dafür gesorgt, dass Imbiss, Klapptische, Stühle, Besteck sowie Wein und Gläser mit dem Auto zum Picknickplatz gebracht wurden. Es würde ein ziemlich großartiges Picknick werden, denn sie hatte außerdem Kantinenpersonal vom College zum Servieren angeheuert. Die Amerikaner würden wahrscheinlich glauben, dass man in England immer so verfuhr. Weiterhin war Kate mit einem Bauern übereingekommen – zufälligerweise war er ein Pächter des Colleges und daher nicht in der Lage, zu verhandeln –, dass sie seine Wiese am Fluss für das Picknick benutzen durften. Der Landwirt versprach, seine Stiere in sicherer Entfernung zu halten, konnte jedoch nicht dafür garantieren, dass es keine Kuhfladen, Mücken, Wespen oder wild gewordene Radfahrer geben würde. Die Wiese war über einen befahrbaren Weg erreichbar, sodass Tische und Imbiss einigermaßen bequem an Ort und Stelle transportiert werden konnten.
Im Vorfeld hatte es einen kurzen, peinlichen Moment gegeben, als Harry Bickerstaff verkündete, er wolle an dem Picknick teilnehmen, und über Kates Antwort, es gäbe keine freien Plätze mehr, sehr verletzt zu sein schien. Dem armen Kerl wurden wirklich alle Wohltaten der Konferenz vorenthalten, dachte sie. Doch was hätte sie tun sollen? Nie und nimmer hätten sie seinen Wanst in einen der Stakkähne bekommen, allenfalls mit einem Kran (und möglicherweise zwei Ochsen, um ihn anzutreiben). Der Koch hatte es rundweg abgelehnt, ihn im Lieferwagen mit der Verpflegung mitfahren zu lassen. »Wenn dieser Mann eine halbe Stunde mit dem Picknick allein bleibt, ist hinterher nicht mal mehr ein Hühnerbein übrig«, hatte er erregt protestiert, was möglicherweise nicht ganz fair war. Doch jetzt, auf dem Fluss, war Kate ganz froh, dass Bickerstaff nicht hatte teilnehmen können.
So müsste das Leben immer sein, dachte sie, lehnte sich im Boot zurück und ließ die Hand durch das Wasser gleiten. Ein junger Mann mit starkem Bizeps und Erfahrung mit Stakkähnen verdiente sich fünf Pfund die Stunde damit, dass er sie sanft zu ihrem Picknickplatz beförderte. Ohne die Studenten wäre es geradezu perfekt, sinnierte sie und beobachtete kleine weiße Wölkchen, die langsam über einen pudrig blauen Himmel segelten. Vögel zwitscherten in den Weidenbäumen, Bläss- und Moorhühner paddelten am Ufer entlang. Auch menschliche Wasserliebhaber ruderten oder paddelten in allerlei Fahrzeugen auf dem Wasser herum. Die Stimme von Martha Hawkins war so weit voraus im ersten Boot, dass Kate sich einbilden konnte, sie wäre gar
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