Unheil ueber Oxford
Minute wäre sie mit ihrem Angreifer allein.
»Halt dich da raus, sonst bist du tot!«
Und mit einem Mal war sie frei. Schwankend drehte sie sich um. Wer war es, der sie bedroht hatte? Doch alles, was sie sah, waren viele Rücken, die in den Konzertsaal zurückströmten, um sich an der zweiten Hälfte des Liederabends zu ergötzen. Langsam folgte sie ihnen.
»Möchten Sie den Sitz am Gang?«, fragte sie Martha höflich. Eingerahmt von Studenten der Genreliteratur fühlte sie sich sicherer, als allein da draußen jedem vorbeikommenden Mörder ausgeliefert zu sein.
Während die Sängerin und ihr musikalischer Begleiter unter donnerndem Applaus auf die Bühne zurückkehrten, versuchte Kate, sich genau an alle Einzelheiten des Geschehens zu erinnern.
Hatte die Hand auf ihrem Rücken einem Mann oder einer Frau gehört? Sie war stark genug für einen Mann gewesen, doch auch eine gut durchtrainierte, gesunde Frau konnte durchaus so fest zupacken. Die Stimme war von einer Stelle oberhalb ihres Ohres gekommen – der Angreifer musste also größer als sie selbst gewesen sein. Allerdings gab es viele Menschen, die ihre eins fünfundsechzig überragten. Zum Klang von Wagnerarien versuchte Kate, sich an weitere Details zu erinnern, doch ihr mit Todesangst erfülltes Gedächtnis gab nichts mehr preis.
Auf dem Rückweg freute sie sich, im Bus am Fenster sitzen zu dürfen. Marthas laute Stimme nagelte sie fest.
»Sie müssen Ihre Werke in der Öffentlichkeit bekannter machen«, salbaderte sie. »Haben Sie schon einen Verlag in Amerika? Nicht? Nun, Sie sollten immer daran denken, dass die Leute es nicht mögen, wenn den Hauptpersonen unangenehme Dinge widerfahren.«
Niemand würde an Martha vorbeikommen und Kate angreifen. Wenigstens eine weitere Stunde lang wäre sie in Sicherheit. Gerne würde sie dafür sorgen, dass ihren Protagonisten keine unangenehmen Dinge widerfuhren; sie wünschte sich nur, dass jemand das Gleiche für sie tat.
Zu Hause stellte Kate fest, dass sie Hilfe brauchte. Ob Andrew schon aus Kalifornien zurück war? War Paul daheim? Und mit wem von beiden wollte sie lieber sprechen?
Schließlich rief sie beide an, doch keiner der beiden meldete sich. Auch bei den Nachbarn rührte sich nichts. Wahrscheinlich waren sie ausgegangen. Wer sonst kam in Frage? Rob Grailing konnte sie schlecht anrufen; sie hatte jedes Vertrauen zu ihm verloren. Auch ihre Freundinnen schieden aus; sie würden sie nie und nimmer ernst nehmen. »Nicht schon wieder, Kate!« Sie konnte ihre Vorwürfe geradezu hören. »Wann bekommst du endlich deine Fantasie unter Kontrolle?«
Kate streifte durch das kleine Haus, überprüfte die Fensterschlösser und schob den Riegel der Hintertür vor. Mehr Sicherheit war nicht möglich. Sie setzte sich auf ihr rosa Sofa und suchte Trost bei ihrer rot getigerten Katze Susannah. Glücklicherweise war Susannah ihre sporadischen Kuschelanfälle gewöhnt und ließ sie sich gerne gefallen. Ob sie den Fernseher aus dem Schrank holen sollte, wo er die meiste Zeit ungenutzt herumstand? Wenn sie das Gerät schön laut aufdrehte, konnte sie vielleicht ihre Ängste vergessen, würde jedoch einen eventuellen Eindringling möglicherweise überhören.
Das Telefon klingelte. Langsam ging sie hin und wollte gerade abnehmen, als der Anrufbeantworter ansprang.
Sie hörte zunächst ihre eigene Ansage, anschließend den Piepton und dann die mittlerweile vertraute Stimme. »Kate Ivory«, zischte sie, »steck deine Nase nicht in fremde Angelegenheiten, sonst bist du dran!«
Oh, ich mische mich ganz bestimmt nicht ein, dachte sie, während sie das blinkende Lämpchen beobachtete und zuhörte, wie das Band sich zurückspulte. Aber alles wäre viel einfacher, wenn ich wüsste, was deine Angelegenheiten sind und wo ich mich heraushalten soll. Paul hatte wahrscheinlich Recht. Wer ihr da drohte, schien zu vermuten, dass sie viel mehr wusste, als es tatsächlich der Fall war. Was könnte sie gesagt oder getan haben, um ihm diesen Eindruck zu vermitteln? Kate ließ die vergangenen Wochen Revue passieren, doch ihr fiel nichts ein.
Hatte sie vielleicht etwas gesehen oder gehört, ohne dessen Bedeutung zu erkennen? Sie wünschte, sie könnte sich erinnern. Es war paradox, aber wenn sie sich aus der besagten Angelegenheit heraushalten sollte, musste sie mehr darüber in Erfahrung bringen.
Der Ärger hatte angefangen, als sie den Job im Bartlemas College angenommen hatte – also musste es damit zu tun haben, so viel war klar.
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