Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers
Stundenhotel begab, versetzte Manfred verständlicherweise einen Stich ins Herz. Am liebsten hätte er laut geschrien oder wäre ihr nachgerannt, um sie zur Rede zu stellen. Er zwang sich jedoch, ruhig zu bleiben.
Mit klopfendem Herzen begab er sich auf die andere Straßenseite, von der er die gesamte Fensterfront der Pension gut überblicken konnte. Nur wenige Fenster waren erleuchtet. Es dauerte keine fünf Minuten, als er beobachtete, wie in einem Zimmer im ersten Stock das Licht anging, seine Frau ans Fenster trat und die Vorhänge zuzog. Obwohl er keine weitere Person sehen konnte, war er sich sicher, dass sie dort ihren Liebhaber treffen würde. Alles andere ergab keinen Sinn. Sein Herz schlug bis zum Hals. Verzweiflung stieg in ihm auf, und er hätte am liebsten laut losgeheult. Aber dann dachte er an seinen Sohn Manuel, den er über alles liebte und der keinesfalls Schaden nehmen sollte durch das, was sich da abzeichnete. Tatenlos zusehen woll te und konnte er allerdings auch nicht. Er würde Karin zur Rede stellen.
An der Rezeption stand ein Mann hinter dem Tresen und ein Gast davor, der entweder ein- oder auschecken wollte. Der Portier blickte nur kurz auf und sah ihn an, um sich dann wieder in einer fremden Sprache mit dem Kunden zu unterhalten. Manfred G. ging an ihm vorbei Richtung Treppe und gelangte ungehindert in den ersten Stock. Er wusste, dass er den Gang nach rechts hinuntergehen musste, denn die Lage des Zimmers hatte er sich eingeprägt – seiner Schätzung nach war es das vorletzte hinten links. Er lauschte an der Tür und hörte drinnen die Stimme seiner Frau. Auch wenn er nicht verstand, was sie sagte, gab es keinen Zweifel, dass sie sich in dem Raum befand. Jetzt war es vorbei mit seiner Beherrschung.
Er hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür und schrie: »Mach sofort auf, Karin! Bitte mach auf!« Es klang weinerlich, fast flehend.
Eigenartigerweise dauerte es nicht einmal 30 Sekunden, bis sich die Tür öffnete. Vor ihm stand ein großer Mann, schätzungsweise zehn Jahre älter als er, alles andere als gut aussehend, eher hässlich. Der Unbekannte war fast einen Kopf größer als er. Sein dünnes, strähniges, weitgehend ergrautes, im Stirnbereich sehr lichtes Haar trug er nackenlang, was nicht zu seinem Alter passte. Obwohl es Winter war, hatte er das Hemd bis zum Bauchansatz aufgeknöpft, sodass die grauen Brusthaare auf seiner braun gebrannten Haut sichtbar waren, ebenso die protzige Goldkette. Der sieht wie ein Zuhälter aus, dachte Manfred einen kurzen Moment. Die Vorstellung, dass seine Karin mit diesem Typen Sex gehabt haben könnte, machte ihn schier wahnsinnig. Eifersucht ergriff ihn, vermischt mit tiefer Verzweiflung. Vorbei war es mit seiner ansonsten so ausgeprägten Toleranz. Am liebsten hätte er den Mann vor sich angeschrien, geschlagen – oder sogar umgebracht. Es war nur ein kurzer Moment der Aggression, der schnell in Resignation umschlug. Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Der Fremde schlüpfte in ein grellrotes Jackett und ging wortlos an ihm vorbei. Manfred G. stellte sich dem Nebenbuhler nicht in den Weg, der ihn kurz verächtlich musterte, sondern betrat das Zimmer, in dem seine Frau auf dem Bett saß – mit nichts bekleidet als schwarzer Reizwäsche. So hatte er sie seit Jahren nicht mehr gesehen.
Falls er geglaubt haben sollte, Karin würde schuld bewusst um Verzeihung bitten, vielleicht in Tränen ausbrechen und sich zu rechtfertigen versuchen, sah er sich getäuscht. Sie griff zu einer Zigarettenschachtel auf dem Nachtkästchen, auf dem noch zwei Gläser mit Sekt oder Champagner standen, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie betont langsam an. Er wusste, dass sie früher einmal geraucht hatte, doch seit mindestens zehn Jahren nicht mehr. Dass sie es jetzt wieder tat, war für ihn ein weiteres Indiz, wie sehr sie sich von ihm und dem gemeinsamen Leben entfernt hatte.
Manfred G. setzte sich in den Sessel gleich neben dem Bett. Er verspürte Übelkeit. Das Zimmer war klein, die Möbel einfach, aber es schien wenigstens sauber zu sein. Das Bett war noch unbenutzt, und es sah nicht danach aus, als hätten sie sich bereits darin vergnügt. Dazu war wohl die Zeit zu knapp gewesen.
»Karin, bitte sag mir, wie lange das schon geht«, begann er das Gespräch und versuchte verzweifelt, die Fassung zu bewahren.
Sie zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. Dabei wirkte sie nach wie vor nicht schuldbewusst, eher
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