Unirdische Visionen
drückt auf »drei«; der Stuhl schwebt nach oben und setzt sie ab.
Sie befindet sich im Vestibül von Dios Arbeitsräumen. Die Wände sind blaugeäderter, kühler Marmor. Sie tritt auf die Klingelanlage.
»Ja, bitte«, ertönt eine freundliche, männliche Stimme, die ihr nicht vertraut ist.
Sie sagt ihren Namen. »Ich möchte Dio sprechen. Ist er nicht zu erreichen?«
Eine merkwürdige Pause. »Ja, er ist da … Wer hat Sie geschickt?«
»Niemand hat mich geschickt.«
»Gut, Sie können hereinkommen, obwohl ich nicht weiß, ob er Zeit für Sie findet.«
Sie durchquert den ersten und zweiten Raum. Der letztere voll von Maschinen und anderem Zeug, bei dessen Anblick es Claire nicht unterlassen kann, die Nase zu rümpfen. Im dritten Raum sprudelt ein Springbrunnen. Fünfzehn bis zwanzig Leute sitzen auf den Wandbänken, die Nase in Büchern. Studenten, natürlich.
Niemand fragt sie nach ihrem Namen oder schreibt sie in eine Liste. Ungeduldig steht sie auf. Zwei Männer unterhalten sich lebhaft. Fast geraten sie sich in die Haare. »Die Deltakurve zeigt eindeutig … eine stochastische Annahme.« Claire blickt auf den Schirm. Kleine Lichtflecken huschen über ihn, und sie hört gedämpftes Gemurmel.
Zwei Sitze davor sind frei. Sie läßt sich auf einem nieder. Nun ist der Schirm erhellt. Sie schaut in ein Zimmer, in dem zwei Männer sitzen. Einer der beiden ist ein Fremder. Der andere … Es muß Dio sein. Die Kopfform; aber seine Stimme klingt so anders. Tief und heiser.
»Ein ganz normaler Prozeß«, sagt der Fremde. »Noch eine Injektion.«
»Nein«, schreit Dio wild. Die Lichter in dem gefilmten Raum flackern, als er abrupt aufsteht.
»Verzeihen Sie«, sagt eine unerwartete Stimme hinter ihrem Rücken. »Sind Sie berechtigt, diese Sitzung zu beobachten?« Claire bringt ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen.
»Bitte, sind Sie …«
Plötzlich gellt ein Schrei. Erschrocken fährt Claire auf.
*
In der Türöffnung ringt Dio mit zwei Männern. Erbittert versucht er, sich der Übermacht zu erwehren.
»Dio!«
Er reißt den Kopf hoch. Sein Gesicht ist rot und verschwollen. Er starrt sie aus ungläubigen, trüben Augen an. Dann bedeckt er sein Gesicht mit den Händen und flieht durch die Tür.
Claire läßt fassungslos die erhobenen Arme sinken. Ein schmaler, junger Mann löst sich aus der Gruppe, die den Vorfall bestürzt mitangesehen hat.
Dios Gesicht scheint noch in der Luft zu hängen; rot und verzerrt, mit weit aufgerissenem Mund.
Der junge Mann faßt sie am Ellbogen. »Wie stehen Sie zu Dio? Haben Sie ihn vorher gekannt?«
»Bevor was? Was ist mit ihm?« Ihre Augen bohren sich angstvoll in das Gesicht des jungen Mannes.
»Eine seltene Krankheit.« Er seufzt; mustert ihre extravagante Robe mit den Goldspangen. »Wie soll ich es Ihnen klarmachen? Können Sie sich unter dem Wort »sterben« etwas vorstellen?«
Sie ist verwirrt »Ich weiß nicht recht … ist es nicht etwas, was Tieren passiert?«
Er verneigt sich spöttisch. »Sehr gut.« Er fährt mit dem Zeigefinger einen unter seiner Berührung aufleuchtenden Indexstreifen an der Wand entlang. »Mal sehen, was in diesem verdammten Reservoir vorhanden ist. Viel werden sie nicht zu bieten haben. Hm! Säugetiere. Terminus.« Auf seinen Fingerdruck hin tut sich eine Öffnung auf und schiebt einen flachen, länglichen Kasten in seine Handfläche. Er hält ihn ihr hin.
In ihrer Hand erhellt sich der Kasten. Er enthält eine weiße Ratte. Das Fell ist stumpf und an manchen Stellen kahl. Irgend etwas ist um ihre Schnauze angetrocknet. Sie schleppt sich auf unsicheren Beinen zum Wassernapf, schnuppert und wendet sich wieder ab. Die Beine versagen ihr den Dienst. Sie bricht zusammen und bleibt bis auf das langsame Heben und Senken ihrer winzigen Brust bewegungslos liegen.
Claire bemüht sich, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. »Was hat sie?«
»Sie stirbt. Das bedeutet: zu leben aufhören. Stop. Einfach nicht mehr da sein. Verstehen Sie das?«
»Nein«, stöhnt sie. Der kleine Körper regt sich nicht mehr. Der Rachen steht weit offen; die Lippen sind zurückgezogen und entblößen die spitzen, gelben Zähne. Blind glotzen die Augen.
»Das ist alles«, sagt ihr Begleiter und nimmt ihr den Kasten weg. »Nach einer Weile fängt der Körper an, zu stinken und sich zu zersetzen; und nach noch einer Weile ist nichts mehr übrig als ein paar Knochen.«
»Ich glaube das nicht«, begehrt sie trotzig auf.
»Haben Sie
Weitere Kostenlose Bücher