Unirdische Visionen
Sterbliche, der wenig oder überhaupt kein Verhältnis zur Zeit hat, denkt sich vielleicht: »Wär’ doch großartig, wenn man ewig leben würde. All den Spaß, den man hätte, die Millionen, die man ausgeben könnte – ganz zu schweigen von den Flirts.« Andere, mit mehr Vorstellungsvermögen, schaudern bei der Idee. Für sie bedeutete Unsterblichkeit eine nicht abreißende Kette von Mühsal und Kummer.
Dio lebte in einer Welt der Unsterblichen. Sie lebten in den Tag hinein und dachten kaum an morgen. Dio, der eine geniale Phantasie besaß – als Planer mußte er das schließlich –, stellt sich als sterblich heraus. Und in dieser »Krankheit«, diesem bestürzenden, wahrhaft menschlichen Zustand, findet er Größe und Tragik: die Tragik des Alterns. Wie er dem Altern begegnet, es überwindet, bildet die Thematik dieser Geschichte. Sie ist eine der tiefsinnigsten in der modernen Science Fiction.
*
Es ist Mittag. Der Himmel flimmert in der Hitze; der gelbe Sand wirft sie zurück; der entfernte Ozean ist eine schimmernde, glatte Fläche. Dio, der Planer, gerade an die Oberfläche gespült, blinzelt gegen die Sonne. Er fühlt die Hitze wie eine Kappe auf dem Kopf.
Ein paar Meter von ihm entfernt räkeln sich drei Männer und zwei Frauen im Sand; ihre gelösten Glieder glänzen. Ansonsten ist der Strand menschenleer. Leer und heiß erstreckt er sich kilometerlang. Nicht einmal eine Möwe in der Luft. Die Männer beginnen ein Ballspiel. Alle sind prachtvoll gebaut. Durchtrainiert, mit mächtigen Brustkästen. Götterstatuen in der Bewegung. Ihre Haut ist glatt; ihre Augen blitzen. Dio blickt auf seinen Unterarm. Ist die Haut eine Spur dunkel verfärbt? Vergröbert?
Er legt sein einziges Kleidungsstück ab. Die fünf sehen ihn ohne Neugierde näherkommen. Sie sind alle ohne Ausnahme Spieler, keine Studenten. Zwei von ihnen kennt er nicht einmal. Er bedauert, daß er gekommen ist. Bei einem nicht formellen Zusammentreffen zwischen Studenten und Spielern spürt jeder die gutmütige Verachtung des anderen. Die Kluft ist zu tief. Sie sind beide nötig auf der Welt. Die Studenten, um das Überlieferte zu bewahren und um Neues zu schaffen; die Spieler, um zu verbrauchen und zu genießen. Aber die Klassen sollten sich nicht mischen.
Schon an ihren Gesichtern ist abzulesen, daß sie Spieler sind. Die großen, ein wenig leeren Augen flackern bald in Begeisterung auf, bald starren sie gelangweilt. Die weichen Münder verbergen keine ihrer wechselnden Regungen. Er läßt seinen Blick auf der blonden Frau, Claire, verweilen. Ihr Gesicht trägt denselben Ausdruck liebendswürdiger Leere. Aber ihre sanft geschwungenen Lippen sind reine Schönheit. Wie ihr dunkelblonder Kopf auf dem Nacken ruht, krampft sich sein Herz vor Sehnsucht zusammen. Es ist ungewöhnlich, wider alle Vernunft, aber er liebt sie.
Wie immer erinnern ihn ihre klaren, grauen Augen an Kristall. Ihr Lächeln wärmt und versöhnt ihn. »Ich bin froh, daß du da bist.« Sie nimmt seine Hand. »Das ist Katha. Du kennst sie doch? Und das sind Piet und Tanno und Mark. Setz dich neben mich und erzähle mir was! Ich kann mich nicht rühren vor Hitze.«
Die Ballspieler nehmen ihr Spiel wieder auf. Die Dunkle, Katha, beginnt, von den Chören in Bethany zu schwärmen. Hat Dio sie gehört? Nein? Aber das muß er schnellstens nachholen. Die Stimmen sind einmalig, der Chorleiter hochbegabt. Seit Jahrhunderten hätte sie so etwas nicht gehört.
Das Wort »Jahrhunderte« fällt ganz nebenbei. Wie alt ist Katha? Achthundert Jahre, tausend? Dio lächelt höflich. »Ich war zu sehr mit einem neuen Projekt beschäftigt.«
»Dio ist ein Planer«, erklärt Claire und betont spöttisch jede Silbe. Und doch schwingt Stolz in ihrer Stimme.
»Ich habe dir schon gesagt, Katha, er ist ein Student unter Studenten. Er baut den ganzen Sektor jedes Jahr neu.«
»Oh, das ist ja faszinierend.« Einen Augenblick später ist sie beim Himmelszirkus in Littlan. Vulgär, aber lustig.
Claires Gesicht ist seinem ganz nahe. Ihre halbgeschlossenen Augenlider sind zart geädert.
Dio hat Kopfschmerzen. Viel zuviel gearbeitet in der letzten Zeit.
»Müde?« fragt sie weich.
Er lehnt sich zurück. »Jetzt herrscht bei uns Hochbetrieb. Alle Entwürfe müssen noch einmal auf Fehler geprüft werden, ehe sie in den Integrator gehen.«
»Es tut mir leid, Dio«, sagt sie entschuldigend. »Ich weiß, ich hätte dich nicht herbitten dürfen. Ruhe dich jetzt aus!«
Sie schiebt ihre Hand unter
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