Unmoralisch
morgen in die Schule, falls du dich erinnerst. Ich glaube nicht, dass die Kids mich mit einem Kater noch ernst nehmen.«
»Warum haben wir uns eigentlich nicht schon in der Schule kennen gelernt?«, fragte Stride – eine Frage, wie man sie nur nach ein paar Gläsern Wein stellt.
»Das dürfte daran liegen, dass du schon längst mit der Schule fertig warst, als ich im ersten High-School-Jahr war«, erwiderte Andrea.
»Ja, stimmt. Aber ist ja auch egal. Du hättest mich damals sowieso kein zweites Mal angeschaut.«
Andrea schüttelte den Kopf. »Ich hätte dich bestimmt ein zweites Mal und auch ein drittes Mal angeschaut.«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Stride. »Ich war ein ernster, grüblerischer Einzelgänger. Und du warst doch bestimmt Cheerleader, in sämtlichen Klubs und hattest einen festen Freund nach dem anderen.«
Andrea grinste. »Cheerleader stimmt. Und ich war im Naturwissenschaftsklub. Aber fester Freund … nein.«
»Ach komm!«
»Nein, im Ernst! Ich hatte ständig Verabredungen, aber meistens ging es nicht über die erste hinaus.« Sie legte die Hände an die Brüste. »Sobald sie gemerkt haben, dass sie da nicht rankommen, haben sie ganz schnell das Interesse verloren.«
»Na ja, das ist ja auch ein bisschen so, als hätte man die Kerzen ausgeblasen und dürfte dann den Geburtstagskuchen nicht essen«, sagte Stride.
»Ach, jetzt komm mir nicht mit diesem typisch männlichen Mist. Du warst auf der High School doch bestimmt der perfekte Gentleman.«
Stride lachte. »Ein sechzehnjähriger Gentleman ist ein Widerspruch in sich.«
»Aber du hast auf der Schule großes Glück gehabt«, sagte Andrea. »Du hast deine Seelenverwandte gefunden. Cindy und du, ihr habt euch doch im letzten Schuljahr kennen gelernt, oder?«
»Ja.«
»Und damit war alles klar, stimmt’s?«
Stride lächelte wehmütig. »Ja, damit war alles klar. Ich war hin und weg. Es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick.«
Andrea schmiegte sich auf dem Sofa enger an ihn und umfasste seinen Arm. Ihre Katze, die auf Strides Schoß lag und schlief, hob den Kopf und wirkte leicht pikiert über diese Unterbrechung.
»Was war so besonders an Cindy?«, fragte Andrea leise.
Stride ließ den Blick in die Ferne schweifen, wo er Cindy noch immer vor seinem geistigen Auge sehen konnte. Mit der Zeit hatte das Bild ein wenig an Schärfe verloren. Es war keine Nahaufnahme mehr, nur noch ein Porträt, das sich immer weiter zu entfernen schien.
»Sie hat nicht zugelassen, dass ich mich auf mich selbst zurückziehe«, sagte er. »Sie hat mich immer wieder geneckt und Löcher in all meine Schutzwälle gebohrt. Und ich habe nie wieder jemanden getroffen, der so spirituell war wie sie, nicht religiös, sondern einfach spirituell. Sie hat mir beigebracht, die Dinge, die ich liebte, den See, den Wald, in einem neuen Licht zu sehen. Und nichts war mehr so wie vorher, sobald ich es mit ihren Augen sah. Alles war besser.«
Er betrachtete die Katze, die wieder eingeschlafen war und sich von seinen Erinnerungen nicht weiter beeindruckt zeigte. Dann schaute er Andrea an, die sich immer noch an seine Schulter schmiegte.
Sie weinte.
Am nächsten Morgen rief Dan Kevin Lowry in den Zeugenstand.
Kevin war der perfekte Zeuge: ein gut aussehender, anständiger junger Mann, der sich in weißem Hemd und Krawatte sichtlich unwohl fühlte. Er rutschte hin und her, um die beste Position für seinen massigen Körper im Zeugenstand zu finden. Sein Blick wanderte durch den Gerichtssaal, musterte nervös die Geschworenen und blieb schließlich an Emily Stoner hängen.
Er lächelte ihr aufmunternd zu, doch Emily reagierte nicht darauf.
Dan ging rasch die erste Zeit der Freundschaft zwischen Kevin und Rachel durch und kam dann auf Graeme zu sprechen.
»Kevin, aus den Zeugenaussagen haben wir erfahren, dass Rachels Beziehung zu Graeme sich recht unvermittelt verändert hat. Sie schienen einander nahe zu stehen, und dann war es plötzlich damit vorbei. Hast du das auch so wahrgenommen?«
Kevin nickte. »Ja, klar. Vor etwa eineinhalb Jahren hat Rachel eine Hundertachtziggradwendung hingelegt. Sie wollte nichts mehr mit Mr Stoner zu tun haben. Mir hat sie erzählt, dass sie ihn hasst.«
»Hat sie dir auch erzählt, warum?«
»Nein. Ich habe sie mal danach gefragt, da hat sie gesagt … na ja, sie hat etwas ziemlich Heftiges über ihn gesagt.«
»Was hat sie gesagt, Kevin?«
Kevin blickte unbehaglich drein. »Sie hat gesagt, er ist ein perverses
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