Unmoralisch
ausgedacht?«
Sally zögerte. »Ich war in Panik. Der Anwalt wollte es doch so hinbiegen, als hätte ich was damit zu tun gehabt, obwohl das völlig absurd war. Und ich dachte wirklich, dass Graeme schuldig ist. Mein Gott, die haben doch ununterbrochen gestritten, es war gar keine so große Lüge.«
»Aber jetzt lügst du schon wieder, Sally«, sagte Serena. »Ich bin auch eine Frau, mich führst du nicht hinters Licht.«
Stride hockte sich vor das Sofa, sodass sein Gesicht auf gleicher Höhe mit Sally war, nur ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. »Du hast gewusst, dass Rachel noch lebt.«
»Das ist doch absurd«, sagte Sally. Aber ihre Stimme zitterte dabei.
»Du hast ihr geholfen abzuhauen«, sagte Serena.
»Hab ich nicht!«
»Dann sag uns endlich, was an dem Abend passiert ist, Sally.« Stride legte dem Mädchen sanft die Hand auf die Schulter. »Hör mal, ich weiß doch, wie Rachel war. Ich weiß, wie sie andere manipulieren konnte.«
Sally sah ihn unverwandt an. »Sie haben ja keine Ahnung«, flüsterte sie.
Sally ballte die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten. Sie hielt die Ellbogen eng an den Körper gepresst und trat mit jedem Schritt so fest auf, dass ihre Locken flogen. Sie konnte an nichts anderes denken, immer wieder sah sie sie vor sich: Rachel und Kevin auf der Brücke.
Rachel, die Kevin küsste. Rachel, die Kevin zwischen die Beine fasste.
Und das Schlimmste war das kleine, böse Lächeln auf Rachels Gesicht gewesen, als sie sich umgedreht hatte, um zu sehen, ob Sally immer noch unten stand und zusah. Es genügte nicht, ihn ihr wegzunehmen. Nein, Rachel musste sie auch noch demütigen.
Sally hatte keine Chance, nicht gegen Rachel. Ihre einzige Rettung lag darin, dass Rachel bisher nicht das leiseste Interesse an Kevin gezeigt hatte. Sie hatte mit ihm gespielt, ihn gereizt, mit ihm geflirtet. Mehr nicht.
Bis heute.
Zurück in ihrem Zimmer konnte Sally ihre Wut kaum noch zügeln. Sie bekam das furchtbare Bild einfach nicht aus dem Kopf. Ein Teil von ihr hätte den beiden am liebsten gesagt, sie sollten ihr gestohlen bleiben. Sollte Kevin doch sehen, ob er in den Armen dieser schamlosen Schlampe glücklich werden würde. Wenn er es unbedingt so wollte – gut, dann sollte sie ihn ruhig zerstören. Sollte er doch sehen, wie es war, unter ihrer Fuchtel zu stehen.
Aber trotz allem konnte sie es nicht zulassen. Es war ja nicht Kevins Schuld. Er war hilflos, wie eine Fliege, die sich in Rachels Spinnennetz verfangen hatte.
Sally beschloss, die Sache ein für alle Mal mit Rachel zu klären. Und sie vor die Wahl zu stellen: Lass die Finger von Kevin, sonst …
Also kletterte sie ganz leise aus ihrem Zimmerfenster im ersten Stock und lief die Straße entlang. Ihr ganzer Körper war angespannt wie eine Sprungfeder. Sie merkte kaum, wie viele Blocks sie hinter sich ließ, und spürte die Kälte nicht, die ihren raschen Atem in der Luft in Dampf verwandelte. Immer wieder ging sie im Geist durch, was sie Rachel alles sagen wollte. Sie studierte eine große Rede ein, murmelte sie leise vor sich hin und stellte die einzelnen Worte immer wieder um, bis alles perfekt war. Doch als sie auf dem Bürgersteig vor Rachels Haus stand, waren alle Worte, die sie sich so sorgsam zurechtgelegt hatte, plötzlich wie weggeblasen. Die Zunge wurde ihr schwer und schien ihr nicht mehr zu gehorchen, und ihr wurde ganz flau. Aller Mut war verschwunden. Sie stand wie angewurzelt da.
Rachel war zu Hause. Sally hatte gedacht, dass sie vielleicht noch mit Kevin zusammen war, dass sie, Sally, warten müsste. Das hätte alles viel einfacher gemacht. Sie hätte Rachel einfach abgepasst, wenn sie aus dem Wagen stieg und nicht damit rechnete, von jemandem angesprochen zu werden. Aber der Wagen stand schon in der Auffahrt. Sally musste nur zur Haustür gehen und klingeln. Sie versuchte, den Mut dazu aufzubringen, indem sie sich noch einmal das Bild der beiden auf der Brücke vor Augen rief. Rachel und Kevin. Den Kuss. Die Verführung. Das Lächeln.
Schlampe.
Sie brauchte nur zu klingeln, und Rachel würde aufmachen. Dann konnte Sally ihren ganzen aufgestauten Zorn loswerden, den sie mit sich herumtrug. Sie konnte Rachel anschreien. Sie ohrfeigen. Ihr zeigen, dass dieses eine Mal zumindest ein anderes Mädchen sich zur Wehr setzte.
Aber sie war wie gelähmt. Sie versuchte, sich zum Weitergehen zu zwingen, aber ihre Füße wollten sich nicht vom Fleck rühren. Sie wusste nicht, ob sie es schaffen würde, Rachel
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