Unmoralisch
breiten Spalt hineinzwängen musste.
Stride nahm den Anblick, der sich ihm bot, in sich auf, bevor die beiden Beteiligten drinnen auch nur reagieren konnten. Ein junges Mädchen mit rundem Kindergesicht und strähnigem blondem Haar lag mit geschlossenen Augen in einem verschossenen blauen Liegesessel, der nur mit Mühe und Not in das Büro passte. Hinter dem Sessel stand Nancy Carver. Mit den Fingerspitzen beider Hände massierte sie dem Mädchen Wangen und Stirn. Auch ihre Augen hinter den Brillengläsern waren geschlossen. Als die Tür gegen die Wand stieß, rissen beide abrupt die Augen auf, und Nancy Carver nahm die Hände so rasch vom Gesicht des Mädchens, als hätte sie sich daran verbrennen können.
Das junge Mädchen sah Stride nicht an, sondern wandte den Kopf und warf Nancy einen ängstlichen Blick zu. Nancy hingegen starrte Stride mit unverhohlener Wut an.
»Was zum Teufel erlauben Sie sich, hier einfach so reinzuplatzen?«, fauchte sie.
Stride verfiel in seinen liebenswürdigsten Entschuldigungston. »Es tut mir furchtbar Leid. Ich muss dringend mit Ihnen reden. Mir war nicht klar, dass Sie jemanden bei sich haben.«
Das Mädchen versuchte, die Lehne des Sessels senkrecht zu stellen, und stand dann auf. Sie vermied es, Stride in die Augen zu sehen. »Ich muss sowieso zurück ins Klassenzimmer. Vielen Dank, Nancy.«
Nancy Carver antwortete in sanfterem Ton. »Keine Ursache, Sarah. Ich bin am Donnerstag wieder hier.«
Sarah nahm einen Stapel Bücher von Nancys Schreibtisch. Dann zwängte sie sich, die Bücher an die Brust gedrückt, mit deutlich sichtbarem Unbehagen an Stride vorbei und beeilte sich, den Flur entlang zu verschwinden.
Stride schloss die Tür. Nancy Carver blieb reglos hinter dem Sessel stehen und musterte ihn wie ein unangenehmes Insekt. Ihre stechenden braunen Augen wirkten hinter den Brillengläsern noch größer. Sie selbst war kleiner, als sie auf den Fotos gewirkt hatte, aber muskulös und durchtrainiert.
»Was wollen Sie?«, fragte sie.
»Mein Name ist Jonathan Stride …«, fing er an. Sie unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Geste.
»Ja, ja, ich weiß, wer Sie sind. Sie sind von der Polizei, leiten die Ermittlungen wegen Rachels Verschwinden und verschwenden meine Zeit.« Sie ging zurück an den Schreibtisch und setzte sich auf den hölzernen Stuhl. »Erzählen Sie mir was Neues.«
Stride schaute sich in dem kleinen Büro um. Der Schreibtisch war ein Standard-Schulmöbel: eine weiße Sperrholzplatte auf Metallbeinen. Darauf lagen stapelweise gebundene Bücher mit obskuren, psychologisch klingenden Titeln und braune Pappordner, die von Papieren nur so überquollen. Auf dem Telefon klebten unzählige kleine Post-Its. Bis auf den Schreibtisch, den Stuhl und den Liegesessel gab es keine Möbel in dem kleinen Zimmer. Auch die Wände waren leer, bis auf eine Korkpinnwand, an der ebenso viele Artikel und Fotos hingen wie an der Bürotür.
Stride machte es sich in dem Sessel bequem und ließ sich dabei absichtlich Zeit. Er zog ein Notizbuch aus der Innentasche seines Sakkos, klopfte ein paar weitere Taschen nach einem Kugelschreiber ab und lehnte sich dann mit einem wohligen Seufzer an die weiche Rückenlehne. Er blätterte einige Seiten des Notizbuchs durch, überflog die Notizen, die er sich bereits gemacht hatte, und schnalzte dabei auf enervierende Weise mit der Zunge. Schließlich hob er den Kopf und sah Nancy Carver an, die am Schreibtisch saß und etwa so viel Geduld ausstrahlte wie eine tickende Zeitbombe.
»Meine Partnerin empfiehlt mir immer wieder, mich einer Therapie zu unterziehen«, sagte er liebenswürdig. »Bekommen alle Ihre Patienten diese kleine Gesichtsmassage?«
Nancys Gesicht war eine starre Maske. »Sarah ist keine Patientin.«
»Nein? Schade. Ich dachte, Sie sind Ärztin, aber vielleicht habe ich da etwas falsch verstanden. Sind Sie vielleicht so eine Art Heilpraktikerin?«
»Ich habe sowohl einen Master als auch einen Doktor in Psychologie, Detective. Ich lehre an der University of Minnesota. Aber für die Mädchen hier bin ich einfach nur Nancy.«
»Wie schön. Also, was war das nun mit Sarah? Eine Pyjamaparty?«
»Nein«, erwiderte sie. »Es geht Sie zwar eigentlich nichts an, aber Sarah leidet unter Schlafstörungen. Ich habe ihr eine Entspannungstechnik gezeigt. Das ist alles.«
Stride nickte. »Entspannung, das ist gut. Das hat meine Partnerin mir auch schon empfohlen.«
»Vielleicht sollte Ihre Partnerin Ihnen lieber empfehlen, schneller
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