Unmoralisch
»Aber das war wohl nichts.«
»Hat Ihr Mann Rachel jemals erwähnt?«
Andrea schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die Englischkurse sind auch völlig überlaufen.«
»Was ist mit anderen Lehrern oder Schülern? Kennen Sie jemanden, der ihr näher stand?«
»Vielleicht sollten Sie mit Nancy Carver reden. Sie arbeitet hin und wieder als psychologische Beraterin hier. Heute Morgen in der Cafeteria hatte sie einiges über Rachel zu sagen.«
»Was zum Beispiel?«
»Sie hält die Suchaktion für Zeitverschwendung.«
»Hat sie auch gesagt, warum?«, fragte Stride.
Andrea schüttelte den Kopf.
»Dann hat diese Frau Rachel also psychologisch betreut?«, fragte er weiter.
»Ich weiß es nicht genau. Nancy ist an der Schule nicht fest angestellt. Sie unterrichtet an der Universität und arbeitet ehrenamtlich hier, um Schülern zu helfen, die Probleme haben. Hauptsächlich Schülerinnen.«
»Hat sie ein Büro im Schulgebäude?«
»Eher so eine Art Besenkammer. Im zweiten Stock. Ich sollte Sie allerdings warnen. Sie tragen da etwas bei sich, dem Nancy eher ablehnend gegenübersteht.«
Stride sah sie verwirrt an. »Eine Pistole?«
»Nein, einen Penis.«
Stride musste lachen. Auch Andrea fing an zu kichern, und bald lachten sie beide schallend. Sie sahen einander an und spürten beide die sanfte Anziehung, die damit einherging. Es war ein eigenartiges Gefühl zu lachen. Stride konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so entspannt gewesen war, dass er irgendetwas wirklich komisch gefunden hätte, und erst recht nicht, wann er so ein Gefühl zuletzt mit einer Frau geteilt hatte.
»Jetzt wissen Sie wenigstens, worauf Sie sich einlassen«, sagte Andrea schließlich.
»Danke. Sie haben mir sehr geholfen, Miss Jantzik.«
»Nennen Sie mich Andrea. Oder dürfen Sie das nicht?«
»Doch. Dann müssen Sie aber Jonathan zu mir sagen.«
»Ich finde, Sie sehen mehr nach Jon aus.«
»Das geht auch.«
Stride zögerte und wusste nicht recht, warum. Schließlich wurde ihm klar, dass er das Bedürfnis hatte, noch mehr zu sagen, sie zum Abendessen einzuladen, sie nach ihrer Lieblingsfarbe zu fragen oder einfach nur die blonde Haarsträhne zu berühren, die ihr in die Stirn gefallen war, und sie sanft wieder an ihren Platz zurückzuschieben. Die Intensität dieser Empfindungen war ihm plötzlich zu viel. Vielleicht lag es ja daran, dass er seit fast einem Jahr nicht einmal einen Anklang davon verspürt hatte. Er war so lange innerlich tot gewesen, dass er sich kaum noch erinnern konnte, wie es sich anfühlte, wieder zum Leben zu erwachen.
»Alles klar mit Ihnen?«, fragte Andrea. Sie sah ihn besorgt an. Ihm fiel auf, wie hübsch sie war.
»Alles bestens. Nochmals vielen Dank.«
Er ließ sie auf der Treppe stehen, und der Augenblick ging vorüber. Allerdings nicht ganz.
Nancy Carvers Büro lag in einer Nische verborgen, sodass man es vom Flur aus kaum sehen konnte. Erst als Stride um die Ecke schaute, entdeckte er die schmale Tür. An einem Nagel hing ein hölzernes Namensschild, und die Tür war über und über mit Fotos und Broschüren gepflastert, die sämtliche Mitglieder der Schulbehörde in helles Entsetzen versetzt hätten.
Einige Zeitschriftenartikel warnten vor den Gefahren der Homophobie, andere – sorgfältig ausgeschnitten und mit plastischen Illustrationen versehen – prangerten die Verbreitung von Pornographie an. Außerdem hing ein Programm der letztjährigen Jahreskonferenz der American Society of Lesbian University Women an der Tür, wo Nancy Carver einen Vortrag gehalten hatte – ihr Name war mit Textmarker hervorgehoben. Und schließlich ein Dutzend Fotos von Frauen mit Campingausrüstung im Wald. Fast alle zeigten junge Mädchen und Frauen im Studentenalter. Die einzige Ausnahme, die auf fast allen Fotos zu sehen war: eine kleine, stämmige Frau um die vierzig, mit kurzem dunkelrotem Haar und einer großen Brille mit dickem schwarzem Rand. Auf den meisten Fotos trug sie einen grünen Fleecepullover und eine verwaschene Jeans.
Stride sah sich die Mädchen auf den Fotos genau an, entdeckte aber weder Rachel noch Kerry. Er verspürte eine vage Enttäuschung.
Als er gerade an die Tür klopfen wollte, hörte er gedämpfte Geräusche von drinnen. Er entschied sich gegen das Klopfen und drehte stattdessen den Türknopf, um zu sehen, ob das Büro vielleicht abgeschlossen war. Die Tür sprang auf und stieß gleich darauf an eine diagonale Wand, sodass man sich durch einen knapp neunzig Zentimeter
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