Unmoralisch
Stride und zog die Augenbrauen hoch. »Guter Witz.«
»Wer kann schon wissen, warum sie das gemacht hat?«, sagte Graeme.
Stride nickte. »Sie haben also keine Ahnung, wann und wo das aufgenommen wurde?«
»Absolut keine.«
Maggie maß ihn mit kaltem Blick. »Das Foto wurde zwei Tage vor Rachels Verschwinden auf Ihrem Computer gespeichert.«
»Zwei Tage vorher?«, sagte Graeme.
»Na, so ein Zufall«, bemerkte Stride.
»Wie ich schon sagte, Rachel wird es dort gespeichert haben. Vielleicht wollte sie sich damit auf ganz spezielle Weise verabschieden, bevor sie ausgerissen ist.«
Stride trat näher an Graeme heran. »Aber sie ist doch gar nicht ausgerissen, nicht wahr, Mr Stoner? Sie sind an jenem Abend beide gemeinsam zur Scheune gefahren. Sie wollten mit ihr schlafen, wie Sie es schon seit Jahren tun. Wollte sie diesmal nicht? Hat sie versucht zu fliehen? Hat sie Ihnen gedroht, Ihrer Frau alles zu erzählen?«
»Graeme«, flehte Emily mit schwacher Stimme. »Bitte sag mir, dass das alles nicht wahr ist.«
Graeme seufzte und sah sie an. »Natürlich nicht.«
»Wir wissen, dass Rachel am bewussten Abend bei der Scheune war, Mr Stoner. Wir wissen auch, dass sie vorher zurück nach Hause gekommen ist und dass nur Sie im Haus waren. Wollen Sie uns nicht sagen, was danach passiert ist?«
Graeme schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht einmal gehört, dass sie nach Hause gekommen ist. Und jetzt werde ich nichts mehr sagen, bis Mr Gale hier ist.«
Er wirkte verstört. Stride freute sich zu sehen, dass auch dieser Mann menschliche Schwächen hatte, dass er Fehler machen und Spuren hinterlassen konnte und nicht wusste, wie er reagieren sollte, wenn seine Lügen ans Licht kamen.
»Sucht weiter, Mags«, sagte Stride.
Maggie wollte gerade wieder nach oben gehen, als ihr Funkgerät knackte. Guppos Stimme füllte laut und deutlich den Raum.
»Maggie, Stride, wir brauchen euch hier draußen. Hinten im Wagen, unter dem Teppich, sind Blutspuren auf dem Boden, und wir haben außerdem Blut an einem Messer aus dem Werkzeugkasten gefunden.«
Maggie griff rasch nach dem Funkgerät und schaltete es aus, aber es war schon zu spät.
Emily schrie laut auf.
Stride und Maggie sahen sie an und hörten beide den Schmerz in ihrer Stimme.
Mit kreidebleichem Gesicht sprang Emily aus dem Sessel auf. Sie drehte sich um und starrte voller Entsetzen Graeme an, der reglos dasaß, mit einem merkwürdigen Grinsen, wie eine Katze, die gerade einen Kanarienvogel gefressen hatte. Emily sank auf die Knie.
Stride trat einen Schritt vor, um sie aufzufangen, falls sie in Ohnmacht fiel.
Emily stöhnte auf, sank auf alle viere und erbrach sich auf den weißen Teppich.
Dritter Teil
1
Das »Kitch«, wie der Kitchi Gamma Club allgemein genannt wurde, war der Versuch der Stadt Duluth, der eleganten, großstädtischen Klubtradition von New England nachzueifern. Das Klubhaus war ein fünfstöckiges Anwesen aus rotem Backstein mit breiten Giebeln, einer imposanten Terrasse und einer makellos gepflegten Gartenanlage, die jetzt, in der Wärme des Frühjahrs, ein einziges Blumenmeer war. Zum Klub gehörten auch gemütliche Bibliotheksräume im obersten Stock, wo man antikes Mobiliar aus Kirschbaumholz, elegante Sessel sowie sämtliche aktuellen Tageszeitungen aus Minneapolis und New York vorfand. Letztere lagen für jeden erreichbar auf kleinen Beistelltischen, deren Beine in Löwentatzen endeten. Hier genossen die Mächtigen und Reichen ihren Cognac und widmeten sich den wichtigsten geschäftlichen Angelegenheiten des städtischen Lebens.
Per, der Portier des Kitch, ein zerknitterter Norweger Anfang achtzig, der bereits dort gearbeitet hatte, als die meisten derzeitigen Mitglieder noch gar nicht auf der Welt gewesen waren, stand stramm, als sich ein großer, massiger Mann dem Eingang des Klubhauses näherte. Der Mann pfiff ein Lied von Frank Sinatra vor sich hin, wie er es während der ganzen dreißig Jahre, die Per ihn jetzt kannte, immer getan hatte. Er war Ende fünfzig und fast so breit wie hoch, ging aber mit elastischem, schwungvollem Schritt. Er hatte graues lockiges Haar, das akkurat frisiert war und sich an den Schläfen bereits merklich lichtete, rote Wangen in einem sonst blassen Gesicht, stechende blaue Augen, eine winzige, runde Brille, die ihm das Aussehen einer Eule gab, und ein freches Ziegenbärtchen. Er trug einen anthrazitfarbenen, dreiteiligen Nadelstreifenanzug und ein weißes Hemd. Unter den Ärmeln des Sakkos schauten goldene
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