Unnatural History

Gäste am folgenden Tag den Jubiläumsfeierlichkeiten im Hyde Park beizuwohnen gedachte.
    Dr. Wilde blieb zurück und wandte sich einem seiner Assistenten zu. »Nash, bringen Sie diesen da in seine Zelle zurück«, sagte er und warf dem gebändigten Psychopathen einen Seitenblick zu, »geben Sie ihm genug Elektroschocks, um ihn außer Gefecht zu setzen. Dann können Sie dieses Ding hier ausschalten.«
    Er gab das Kontrollgerät für den Metallkragen an den Mann weiter.
    »Ja, Dr. Wilde.«
    »Und denken Sie daran, Nash, dass die restlichen Kragen noch heute Nacht angebracht werden.«
    Sein vormals für die Gruppenführung umgänglicher Tonfall war einem scharfen Befehlston gewichen.
    »Ja, Dr. Wilde«, stimmte Nash zu.
    Im Licht einer einzelnen nackten Glühbirne verließ Wilde das Labor durch eine weitere Stahltür und betrat sein privates Büro, damit seine Untergebenen in seiner Abwesenheit alles vorbereiten konnten. Er schloss die Tür sorgfältig hinter sich ab und setzte sich an ein bescheidenes gräuliches Metalltischchen. Das Einzige, das daran interessant erschien, war die in Teak und Messing eingefasste Kiste, die darauf stand. Sie sah aus wie eine größere Version der Kontrollbox, welche er für die Demonstration des Kragens verwendet hatte.
    Wilde blickte auf die Uhr an der Wand, danach auf seine Taschenuhr und dann erneut zur Wand. Seine Finger trommelten nervös auf die Tischoberfläche, während er in den rauchgeschwängerten Himmel hinter dem kleinen, vergitterten Fenster hinausblickte. Die malvenfarbenen und senfgelben Wolken wurden von den Strahlen der Suchscheinwerfer des Towers durchstochen, die kreuz und quer umherfegten.
    In der Vergangenheit hatte der Tower verschiedenen Zwecken gedient – als königlicher Palast, als eine Menagerie, ein Museum, eine Schatzkammer und als Attraktion für Touristen – doch nun hatte man erneut ein Gefängnis daraus gemacht.
    Als Kerker hatte er einstmals viele berühmte Gäste empfangen, unter anderem Königinnen, Könige und Landesverräter. Nun war es der letzte Ort für die gewalttätigsten und brutalsten Schurken, die das Empire jemals zu Gesicht bekommen hatte – Mörder, Vergewaltiger und zwanghaft Kriminelle. In einem Flügel wurden die gefährlichsten von ihnen gehalten: Psychopathen, Schänder, Schizophrene – eben jene Geisteskranken, denen es von Gesetzes wegen nicht gestattet war, ihr gottloses Leben weiterzuführen. Doch das würde sich alles schnell ändern, sobald die neue Ordnung anbrach. Und diese Wesen würden die Vorhut bilden, für das außergewöhnlichste wissenschaftliche Experiment der letzten fünfzehn Jahre.
    Blechernes Brummen und Summen störte des Doktors Träumerei und zwang ihn, seinen Kommunikator zur Hand zu nehmen. »Wilde«, sagte er schlicht.
    »Dr. Wilde, die Stunde hat geschlagen«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung. »Der Plan startet zur vereinbarten Zeit. Werden Sie bereit sein?«
    »Ich bin bereit, Agent Kane«, bestätigte Wilde.
    »Die Dämmerung kommt, Bruder.« Dann war die Leitung tot.
    Cornelius Wilde fühlte eine kribbelnde Woge Adrenalin in seinem Körper emporsteigen und bemerkte plötzlich, wie sein Herz in seiner Brust umhersprang.
    Die Zeit war gekommen. Die Dämmerung war auf dem Weg und mit ihr eine glorreiche neue Epoche in der Geschichte der Menschheit. Es war an der Zeit, die soziale Ordnung umzukippen und den Meistern der Wissenschaften die Gelegenheit zu geben, ihre Schwingen auszubreiten, anstatt sie weiterhin hinter den Absperrungen von überholten und antiquierten wissenschaftlichen Prinzipien zurückzuhalten. Das Zeitalter des Dampfbetriebes strebte seinem Ende entgegen und über ihm lag eine ruhmreiche Ära von Möglichkeiten. Ein solches Zeitalter würde seine Pioniere brauchen, seine wissenschaftlichen Heldenfiguren, seine Anführer.
    Der Zirkusdirektor grinste. Alles, was sich bisher ereignet hatte, war nur ein Aufwärmtraining gewesen, ein Vorspiel sozusagen. Das Finale über drei Runden konnte beginnen.
    »Show Time!«, sagte Wilde zu sich selbst, als er die nachtschwarzen Silhouetten von Raben über die mit Stacheldraht bespannten Zinnen des Towers streichen und hinein in den von einem bevorstehenden Sturm dunkel verfärbten Himmel fliegen sah.
     
     

Kapitel 20
    Die Limehouse-Connection
     
    Der Silver Phantom Mark IV rollte in der anschwellenden Dunkelheit zu einem Halteplatz neben der Lagerhalle. Die Scheinwerfer waren bereits gelöscht, die Reifen machten auf dem