Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
ihre Erörterung hat an dem Beitrag der Philosophie zur Allgemeinkultur keinen Teil.
Die akademische Erziehung sollte darauf abzielen, als Gegengewicht zur Spezialisierung, die mit der Zunahme unseres Wissens unvermeidlich geworden ist, soviel von den kulturell wertvollen Aspekten des Geschichts-, Literatur-und Philosophiestudiums zu vermitteln, als die Zeit erlaubt. Es muss einem jungen Menschen, der nicht Griechisch kann, leicht gemacht werden, durch Übersetzungen ein gewisses, wenn auch unvollkommenes Verständnis dessen zu erwerben, was die Griechen geleistet haben. Statt in der Schule immer wieder die angelsächsischen Könige durchzunehmen, sollte man versuchen, eine Gesamtüberschau der Weltgeschichte zu bringen und die Probleme unserer Zeit mit denen ägyptischer Priester, babylonischer Könige und athenischer Reformer in Beziehung zu setzen; ebenso auch mit all den Hoffnungen und Verzweiflungsausbrüchen der dazwischenliegenden Jahrhunderte. Allein mein Gegenstand ist ausschließlich die Philosophie, die ich nun von diesem Standpunkt aus behandeln will.
Die Philosophie hat seit ihren frühesten Zeiten zwei verschiedene Ziele gehabt, die man für eng verschwistert hielt. Das eine war ein theoretisches Verständnis des Aufbaus der Welt, das andere, die beste Lebenshaltung zu entdecken und zu predigen. Von Heraklit bis zu Hegel, ja selbst bis zu Marx behielt sie diese beiden Ziele ständig im Auge; sie war weder rein theoretisch noch rein praktisch, sondern strebte nach einer Theorie des Universums, um eine praktische Ethik darauf zu gründen.
So stand die Philosophie in enger Beziehung einerseits zur Wissenschaft, andrerseits zur Religion. Betrachten wir zuerst ihr Verhältnis zur Wissenschaft. Diese war bis zum achtzehnten Jahrhundert in dem, was man gemeinhin »Philosophie« nannte, inbegriffen; seit damals aber ist das Wort »Philosophie« in seiner theoretischen Bedeutung auf die abstraktesten und allgemeinsten Gebiete der wissenschaftlichen Disziplinen beschränkt. Es heißt oft, die Philosophie mache keine Fortschritte. Allein das ist ein bloßer Streit um Worte: sobald man nämlich über eine alte Streitfrage endgültig Sicherheit gewonnen hat, wird dies neue Wissen der »Wissenschaft« zugerechnet und so die Philosophie der ihr gebührenden Anerkennung beraubt. Bei den Griechen und bis herauf zu Newton gehörte die Theorie der Planeten zur »Philosophie«, weil sie unsicher und abstrakt war; Newton aber entzog diese Disziplin dem freien Meinungsstreit und machte sie zu einer neuen, die nun eine andere Art der Vorbildung erforderte als damals, als sie noch grundsätzlichen Zweifeln unterlag. Eine Evolutionstheorie besaß schon Anaximander im sechsten Jahrhundert v. Chr.; er verfocht die Abstammung des Menschen von Fischen. Das war Philosophie; war es doch bloße Spekulation, die ausführlichen Beweismaterials entbehrte. Darwins Evolutionstheorie hingegen war Wissenschaft, beruhte sie doch auf der Aufeinanderfolge von Lebensformen, wie man sie in Fossilien vorfand, und auf der Verteilung von Tieren und Pflanzen in vielen Weltgegenden. Man könnte sogar, nicht ganz zu Unrecht, scherzen: Wissenschaft ist, was wir wissen; Philosophie, was wir nicht wissen.« Man sollte aber hinzufügen, dass die philosophische Spekulation über das, was wir noch nicht wissen, sich als wertvolle Vorstufe exakter Wissenschaft erwiesen hat. Die Vermutungen der Pythagoreer über Astronomie, von Anaximander und Empedokles über biologische Evolution, und von Demokrit über den atomistischen Aufbau der Materie lieferten den späteren Wissenschaftlern Hypothesen, auf die sie ohne die Philosophen vielleicht nie verfallen wären. Wir dürfen sagen, dass die Philosophie im theoretischen Sinn des Wortes wenigstens zum Teil in der Formulierung großzügiger, allgemeiner Hypothesen besteht, welche die Wissenschaft noch nicht überprüfen kann; wird es möglich, sie zu überprüfen, so werden sie, falls bestätigt, ein Teil der Wissenschaft und zählen nicht mehr als »Philosophie«.
Der Nutzen der Philosophie im theoretischen Sinn des Wortes erschöpft sich nicht in Spekulationen, auf deren Bestätigung durch die Wissenschaft wir in absehbarer Zeit hoffen dürfen. Gewisse Leute sind von dem, was die Wissenschaft weiß, so beeindruckt, dass sie darüber vergessen, was sie nicht weiß; anderen wieder liegt so viel mehr an dem, was sie nicht weiß, dass sie ihre Errungenschaften schmälert. Jene, die glauben, die Wissenschaft sei
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