Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
alles, werden selbstzufrieden und siegessicher und schmähen jedes Interesse an Fragen, die nicht so klar umrissen und bestimmt sind, wie es die naturwissenschaftliche Behandlung erfordert. In der Praxis neigen sie zur Auffassung, dass Fachkenntnis den Platz der Weisheit einnehmen könne, und dass es »fortschrittlicher« und daher besser sei, einander mit den letzten Errungenschaften der Technik zu töten, als einander mit altmodischen Mitteln am Leben zu erhalten. Andererseits verfallen die Verächter der Wissenschaft in der Regel irgendeinem althergebrachten und gefährlichen Aberglauben und weigern sich, den ungeheuren Fortschritt der Menschheit und die Hebung ihres Wohlstandes anzuerkennen, die Wissenschaft und Technik bei weiser Anwendung ermöglichen würden. Beide Geisteshaltungen sind beklagenswert; den richtigen Weg weist uns die Philosophie, indem sie uns das Ziel, zugleich aber auch die Grenzen der Wissenschaft klar vor Augen führt.
Wollen wir alle ethischen oder Wertfragen vorläufig beiseite lassen, so gibt es eine Anzahl rein theoretischer Fragen von ewigem und leidenschaftlichem Interesse, welche die Wissenschaft wenigstens zur Zeit nicht beantworten kann. Gibt es ein Leben nach dem Tod in irgendeiner Form, und wenn ja, ist es zeitlich begrenzt oder aber ewig? Kann der Geist über die Materie herrschen, oder beherrscht diese ihn gänzlich, oder ist vielleicht beiden ein gewisses Maß an Unabhängigkeit eigen? Hat das Universum einen Sinn, oder treibt es blinder Zwang? Oder ist es etwa ein bloßes Chaos, ein Durcheinander, in dem unsere vermeintlichen Naturgesetze nur die Auswüchse unserer eigenen Ordnungsliebe sind? Wenn es einen Schöpfungsplan gibt, kommt darin dem Leben mehr Bedeutung zu, als die Astronomie uns glauben machen will, oder ist unsere Überbetonung des Lebens bloße Engstirnigkeit und Selbstüberhebung? Ich kenne die Antwort auf diese Fragen nicht, glaube auch nicht, dass jemand anderer sie kennt; ich glaube aber, dass das menschliche Leben ärmer würde, wollte man sie vergessen oder sich mit eindeutigen Antworten ohne schlüssige Beweise zufriedengeben. Das Interesse an solchen Fragen wachzuhalten und die vorgebrachten Antworten kritisch zu prüfen, ist eine der Aufgaben der Philosophie.
Wer rasche Vergütung und genaue Abrechnung über geleistete Arbeit und Lohn liebt, wird unzufrieden sein mit einem Studium, das beim derzeitigen Stande unseres Wissens nicht zu sicheren Ergebnissen kommen kann und nur die vermeintlich zeitraubende fruchtlose Meditation über unlösbare Probleme fördert. Dieser Ansicht kann ich mich ganz und gar nicht anschließen. Irgendeine Philosophie ist allen Menschen, ausgenommen den ganz Gedankenlosen, Bedürfnis; bei mangelndem Wissen aber wird sie fast unvermeidlich eine törichte Philosophie sein. Daraus folgt die Aufspaltung der Menschheit in rivalisierende Gruppen von Fanatikern, deren jede überzeugt ist, ihre eigene Spielart des Unsinns sei die heilige Wahrheit, die der Gegenseite aber fluchwürdige Ketzerei. Arianer und Katholiken, Kreuzfahrer und Moslems, Protestanten und Päpstliche, Kommunisten und Faschisten haben in den letzten 1600 Jahren weite Zeiträume mit nichtigen Streitigkeiten ausgefüllt, während doch ein wenig Philosophie beiden Parteien in allen diesen Auseinandersetzungen gezeigt hätte, dass keine von beiden sich mit Grund im Recht glaubte. Der Dogmatismus ist ein Feind des Friedens und eine unüberwindliche Schranke auf dem Wege zur Demokratie. Heute ist er zumindest ebensosehr wie früher das größte geistige Hindernis der menschlichen Glückseligkeit.
Das Verlangen nach Sicherheit ist dem Menschen eingeboren; dennoch ist es eine geistige Untugend. Unternimmt man mit seinen Kindern bei unsicherem Wetter einen Ausflug, so werden sie eine dogmatische Antwort verlangen, ob es heiter sein oder regnen wird, und sie werden von einem enttäuscht sein, wenn man es nicht sicher sagen kann. Dieselbe Art Versicherung verlangt man im späteren Leben von jenen, die sich erbötig machen, Völker ins Gelobte Land zu führen. »Liquidiert die Kapitalisten, und die überlebenden werden die ewige Seligkeit genießen!« »Rottet die Juden aus, und es werden nur Ehrenmänner übrig bleiben!« »Tod den Kroaten! die Serben an die Macht!« »Tod den Serben; die Kroaten an die Macht!« Solcherart sind die Schlagworte, die in unserer Zeit bei den Massen weitgehend Anklang gefunden haben. Schon ein Quentchen Philosophie würde die bereitwillige
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