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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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Aufnahme solchen blutdürstigen Unsinns verhüten. Aber solang der Mensch nicht gelernt hat, bei Mangel an Beweisen mit seinem Urteil zurückzuhalten, wird er von selbstsicheren Propheten irregeführt werden, und seine Führer werden höchstwahrscheinlich ignorante Fanatiker oder aber betrügerische Scharlatane sein. Die Ungewissheit ist schwer zu ertragen; doch das gilt auch von den meisten übrigen Tugenden. Zur Aneignung jeder Tugend gibt es eine eigene Disziplin; die beste Disziplin, um sich Zurückhaltung im Urteil anzueignen, ist die Philosophie.
    Soll jedoch die Philosophie einem positiven Zweck dienen, so darf sie nicht bloßen Skeptizismus lehren, denn so schädlich der Dogmatiker ist, so unnütz ist der Skeptiker. Dogmatismus und Skeptizismus sind beide in gewissem Sinne absolute Philosophien: der eine ist überzeugt von seinem Wissen, der andere von seinem Nichtwissen. Was die Philosophie beseitigen muss, ist die Gewissheit, sei es nun die des Wissens oder des Nichtwissens. Das Wissen ist kein so festumrissenes Konzept, wie man gewöhnlich meint. Anstatt zu sagen »Ich weiß das«, sollten wir sagen »Ich weiß etwas ziemlich sicher; es läuft ungefähr auf folgendes hinaus.« Gewiss ist dieser Vorbehalt etwa hinsichtlich des Einmaleins kaum notwendig; aber das Wissen um praktische Dinge entbehrt nun einmal arithmetischer Gewissheit und Genauigkeit. Behaupte ich etwa »Demokratie ist gut«, so muss ich zunächst zugeben, dass ich das nicht so sicher weiß wie, dass zwei mal zwei vier ist, und ferner, dass »Demokratie« ein etwas unklarer Begriff ist, den ich nicht genau bestimmen kann.
    Daher sollten wir sagen: »Ich bin ziemlich sicher, dass es gut ist, wenn ein Regierungssystem einige jener Merkmale besitzt, die den Verfassungen Englands und Amerikas gemeinsam sind«, oder so ähnlich. Und eines unserer Lehr-und Bildungsziele sollte es sein, einer solchen Feststellung von der Rednertribüne aus mehr Wirkung zu sichern als dem üblichen politischen Schlagwort.
    Denn die Erkenntnis, dass unser gesamtes Wissen mehr oder weniger unsicher und vag ist, genügt allein nicht; wir müssen zugleich lernen, nach der besten Hypothese zu handeln, ohne dogmatisch an sie zu glauben. Um noch einmal auf den Ausflug zurückzukommen: obwohl man zugibt, es werde vielleicht regnen, bricht man doch auf, wenn man schönes Wetter für wahrscheinlich hält, trägt jedoch auch der gegenteiligen Möglichkeit Rechnung, indem man Regenmäntel mitnimmt. Der Dogmatiker würde die Regenmäntel zuhause lassen. Dieselben Richtlinien gelten auch, wo es um wichtigere Dinge geht. Allgemein kann man sagen: alles, was als Wissen gilt, lässt sich nach Sicherheitsgraden einteilen; zuoberst stehen Arithmetik und die Tatsachen der Sinneswahrnehmung. Dass zweimal zwei vier ist, und dass ich in meinem Zimmer am Schreibtisch sitze, sind Aussagen, an denen jeder ernste Zweifel meinerseits pathologisch wäre. Fast ebenso sicher weiß ich, dass gestern schönes Wetter war; aber doch nicht ganz so sicher, denn das Gedächtnis spielt uns in der Tat zuweilen seltsame Streiche. Weiter zurückliegende Erinnerungen sind schon zweifelhafter, besonders dann, wenn gewichtige emotionale Gründe eine trügerische Erinnerung bedingen; solche, wie sie zum Beispiel Georg IV. glauben ließen, er habe die Schlacht bei Waterloo mitgemacht. Wissenschaftliche Gesetze können der Gewissheit sehr nahe kommen oder aber nur eben wahrscheinlich sein, je nach dem Stande der Beweisführung.
    Handelt man nach einer Hypothese, deren Unsicherheit man kennt, so hat man sein Handeln so einzurichten, dass es nicht allzu schlimme Folgen hat, wenn die Hypothese falsch ist. Im Falle unseres Ausflugs kann man es in Kauf nehmen, durchnässt zu werden, wenn alle Teilnehmer gesund und kräftig sind, nicht aber, wenn einer davon so schwächlich ist, dass er Gefahr läuft, sich eine Lungenentzündung zuzuziehen. Oder nehmen wir an, Sie treffen einen Anhänger von Herrn Kannegießer. Sie werden ihn mit Recht in ein Wortgefecht verwickeln dürfen, denn der Schaden wird nicht groß sein, wenn Herr Kannegießer wirklich ein so großer Mann war, wie seine Jünger glauben. Sie würden aber Unrecht tun, ihn auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen; denn das Übel, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, ist sicherer als jede theologische Behauptung. Wären natürlich Kannegießers Anhänger so zahlreich und so fanatisch, dass es um Leben und Tod ginge, so würde die Frage schon schwieriger; doch

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