Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
ausdrückt, Worte vorkommen, die in verschiedenen Lesern verschiedene, aber starke Gefühle wecken, so versuchen Sie, sie durch Buchstaben A, B, C, usw. zu ersetzen und dann nicht mehr an die jeweilige Bedeutung dieser Abkürzungen zu denken. Nehmen wir an, A sei England, B Deutschland und C Russland. Solange Sie noch daran denken, was die Buchstaben bedeuten, wird Ihre Meinung über das Gelesene zum größten Teil davon abhängen, ob Sie Engländer, Deutscher oder Russe sind, was vom logischen Standpunkt aus ganz unerheblich ist. Wenn Sie in den Anfangsgründen der Algebra Beispiele rechnen über A, B und C, die einen Berg ersteigen, so nehmen Sie an den betreffenden Herren keinen gemütsmäßigen Anteil, und Sie tun am besten, die Lösung mit unpersönlicher Korrektheit zu erarbeiten. Würden Sie jedoch A mit sich selbst, B mit ihrem verhassten Nebenbuhler und C mit dem Lehrer gleichsetzen, der die Aufgabe gestellt hat, so würde Ihre Rechnung durcheinandergeraten, und Sie würden zweifellos herausfinden, dass A der erste und C der letzte ist. Bei der Auseinandersetzung mit politischen Problemen ist diese gemütsmäßige Voreingenommenheit schlechthin unvermeidlich, und nur Sorgfalt und lange Übung können Sie befähigen, darüber so objektiv zu denken wie über das Algebraexempel.
Das Denken in abstrakten Begriffen ist natürlich nicht der einzige Weg zur ethischen Unparteilichkeit. Sie lässt sich genau so gut, ja vielleicht sogar besser auf dem Wege der Nachempfindung verallgemeinerter Gefühle erreichen. Doch fällt dies den meisten Menschen schwer. Wenn Sie hungrig sind, so werden Sie sich, nötigenfalls auch unter großen Anstrengungen, Nahrung verschaffen; wenn aber Ihre Kinder hungrig sind, werden Sie vielleicht noch größere Anstrengungen machen. Wenn Ihr Freund dem Hungertode nahe ist, werden Sie sich wahrscheinlich bemühen, seine Not zu lindern. Wenn Sie aber hören, dass ein paar Millionen Inder oder Chinesen vom Tode durch Unterernährung bedroht sind, dann ist das Problem so ungeheuer und so fern, dass Sie es wahrscheinlich bald ganz vergessen, es sei denn, Sie tragen irgendeine amtliche Verantwortung dafür. Dennoch kann man bei entsprechender Veranlagung, durch lebhafte Einfühlung die ethische Unvoreingenommenheit erwerben. Besitzt man diese ziemlich seltene Gabe nicht, ist die Gepflogenheit, praktische Fragen nicht nur konkret, sondern auch abstrakt zu betrachten, der beste Ersatz.
Interessant sind die Beziehungen zwischen logischer und emotionaler Unvoreingenommenheit in der Ethik. Das Wort »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« predigt emotionale Unparteilichkeit; der Ausspruch »Ethische Vorschriften dürfen keine Eigennamen enthalten« dringt auf logische Unparteilichkeit. Diese beiden Forderungen klingen sehr verschieden; prüft man sie aber, so wird man in ihrer praktischen Bedeutung kaum einen Unterschied finden. Wohlmeinende werden die überlieferte Form vorziehen, Logiker vielleicht die andere. Ich weiß nicht recht, welche dieser beiden Menschengattungen zahlreicher ist. Jedes der beiden Gebote würde, wenn die Staatsmänner sich dazu bekennten und die von ihnen vertretenen Völker sie annahmen, rasch zum Tausendjährigen Reich führen. Juden und Araber würden zusammenkommen und sich sagen: »Wir wollen zusehen, wie wir für uns beide zusammen das größtmögliche Gute erhalten können und nicht allzu kleinlich danach fragen, wie es zwischen uns verteilt wird.« Offensichtlich würde jedem der beiden Völker weit mehr von dem zufallen, was zum Glücklichsein gehört, als jedes für sich allein heute bekommen kann. Dasselbe träfe auf Hindus und Moslems zu, auf die chinesischen Kommunisten und die Anhänger Tschiangkaischeks, auf Italiener und Jugoslawen, Russen und westliche Demokraten. Aber leider ist in allen diesen Auseinandersetzungen auf keiner Seite Logik oder Wohlwollen zu erwarten.
Man kann nicht verlangen, dass junge Leute, die sich eifrig wertvolles Fachwissen aneignen müssen, viel Zeit für das Studium der Philosophie erübrigen können. Aber selbst in der kurzen Zeit, die sich ohne Beeinträchtigung der Fachausbildung leicht erübrigen lässt, kann die Philosophie dem Studenten gewisse Dinge schenken, die ihn zu einem viel wertvolleren Menschen und Staatsbürger machen werden. Sie kann ihn an exaktes und sorgfältiges Denken gewöhnen, nicht allein in der Mathematik und den Naturwissenschaften, sondern auch in Fragen von weitreichender praktischer
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