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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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unberührt davon bleibt der allgemeine Grundsatz, dass eine unsichere Hypothese nicht ein sicheres Übel rechtfertigen kann, außer es wäre ein gleiches Übel unter der gegenteiligen Annahme gleich sicher.
    Wir sagten oben, die Philosophie habe sowohl ein theoretisches als auch ein praktisches Ziel. Es ist nun an der Zeit, uns dem letzteren zuzuwenden.
    Bei den meisten Philosophen der Antike war eine Theorie des Universums eng verquickt mit einer Lehre, wie man sein Leben am besten einrichten solle. Einige von ihnen gründeten Bruderschaften, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den späteren Mönchsorden aufwiesen. Sokrates und Plato entrüsteten sich über die Sophisten, weil diese keine religiösen Ziele verfolgten. Soll die Philosophie im Leben der Laien eine ernsthafte Rolle spielen, so darf sie nicht ablassen, für irgendeine Lebensführung einzutreten. Sie übernimmt damit eine Aufgabe, die früher die Religion erfüllte; doch mit gewissen Unterschieden. Der wichtigste ist, dass es hier keine Berufung auf die Autorität gibt, sei es die der Überlieferung oder eines heiligen Buches. Der zweitwichtigste ist, dass ein Philosoph nicht versuchen sollte, eine Sekte zu gründen; Auguste Comte versuchte es, sein Versuch schlug aber verdientermaßen fehl. Der dritte ist, dass man auf die geistigen Tugenden mehr Gewicht legen sollte, als man es seit dem Untergang der hellenischen Kultur gemeinhin tat.
    Es besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen den Lehren der alten Philosophen und jenen, die unserer Zeit angemessen sind. Die alten Philosophen wandten sich an eine müßige Herrenschicht, die nach ihrem Gutdünken leben und, wenn es ihr beliebte, selbst eine unabhängige Stadt gründen konnte, mit Gesetzen, die der Niederschlag von ihres Meisters Lehren waren. Die überwältigende Mehrzahl der heutigen Gebildeten besitzt diese Freiheit nicht; sie müssen sich in dem gegebenen Rahmen der Gesellschaft ihren Lebensunterhalt verdienen und können in ihrem Privatleben keine umwälzenden Neuerungen einführen, ohne vorher solche umwälzende Neuerungen in Politik und Wirtschaftsleben durchzusetzen. Daraus folgt, dass die ethische Überzeugung eines Menschen heute mehr auf der politischen Bühne und weniger im Privatleben zum Ausdruck kommen muss, als das im Altertum der Fall war. Und der Plan zu einer guten Lebensführung muss heute weniger ein individueller denn ein sozialer Plan sein. Als solchen hat ihn denn auch unter den Alten schon Plato im »Staat« entworfen; aber viele von ihnen hatten eine mehr individualistische Auffassung vom Sinn und Zweck des Lebens.
    Unter diesem Vorbehalt wollen wir nun sehen, was die Philosophie zur Ethik zu sagen hat.
    Um mit den geistigen Tugenden zu beginnen: das Studium der Philosophie ist gegründet auf den Glauben, dass das Wissen ein Gutes ist, selbst wenn das, was man weiß, schmerzlich ist. Wer vom Geist der Philosophie durchdrungen ist – er sei Philosoph vom Fach oder nicht – wird wünschen, dass seine Überzeugungen so wahrheitsgetreu seien, als er sie nur gestalten kann, und wird das Wissen lieben, das Verweilen im Irrtum hassen. Dieser Grundsatz hat weitreichendere Folgen, als es zunächst scheinen möchte. Unsere Überzeugungen entspringen den verschiedensten Quellen: was uns Eltern und Lehrer in der Jugend erzählten, was mächtige Organisationen uns einreden, damit wir nach ihrem Willen handeln, was unsere Befürchtungen entweder verkörpert oder mildert, was unsere Selbstachtung hebt, und so weiter. Aus allen diesen Quellen kann uns durch Zufall die richtige Überzeugung kommen; wahrscheinlich aber werden sie uns in die entgegengesetzte Richtung führen. Daher wird uns nüchternes Denken zu einer genauen Überprüfung unserer Überzeugungen veranlassen, damit wir erkennen, welche von ihnen wir überhaupt mit Grund für wahr halten. Wenn wir klug sind, so werden wir diese befreiende Kritik besonders auf jene Überzeugungen anwenden, an denen zu zweifeln uns am schmerzlichsten ist, und auf jene, die uns am ehesten in gewaltsamen Konflikt mit Menschen bringen können, die gegenteiliger, aber ebenso unbegründeter Ansicht sind. Könnte diese Geisteshaltung Gemeingut werden, so würden wir geistigen Auseinandersetzungen ihre Hitze und Schärfe nehmen und daraus unschätzbaren Gewinn ziehen.
    Eine zweite geistige Tugend ist die allgemeine Betrachtungsweise, die Unparteilichkeit. Ich empfehle hierzu folgendes Exempel: Wenn in einem Satz, der eine politische Überzeugung

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