Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
katholischen – schämten sich nicht, unter Missachtung der Erbsünde mit der modernen Irrlehre zu liebäugeln, dass
» ... wir kommen auf Wolken der Herrlichkeit von Gott, der unsere Heimat ist:
In unsrer Kindheit ist der Himmel rings um uns.«
Es kam, was kommen musste. Es schien bald nicht recht, ein Geschöpf, das in Abrahams Schoß lag, zu verprügeln oder an Stelle »edler Triebe« die Rute zu gebrauchen, um es »gleich einem ertappten Sünder erzittern zu lassen«. Und so sahen sich Eltern und Lehrer des Vergnügens, das ihnen die Verhängung von Strafen bereitet hatte, beraubt; es entwickelte sich eine Theorie der Erziehung, die verlangte, auch die Wohlfahrt des Kindes zu berücksichtigen und nicht nur die Willkür und das Machtbewusstsein der Erwachsenen.
Der einzige Trost, den die Erwachsenen sich gestatten durften, war die Erfindung einer neuen Psychologie des Kindes. Die Kinder sind nun, nachdem sie der traditionellen Theologie als Glieder Satans und den Erziehungsreformern als mystisch erleuchtete Engel galten, wieder die kleinen Teufel von ehedem – aber nicht mehr theologische Dämonen, inspiriert vom Gottseibeiuns, sondern wissenschaftliche, Freudsche Gräuelgeschöpfe, inspiriert vom Unbewussten. Sie erscheinen, das muss gesagt sein, nun viel schlimmer als in den Traktaten der Mönche; in modernen pädagogischen Werken entwickeln sie einen Erfindungsreichtum und eine Hartnäckigkeit in sündhaften Vorstellungen, der in der Vergangenheit mit Ausnahme des heiligen Antonius nichts vergleichbar ist. Ist nun dies alles endlich die objektive Wahrheit? Oder ist es bloß eine geistige Entschädigung der Erwachsenen, da sie nun die kleinen Racker nicht mehr durchbleuen dürfen? Freuds Anhänger würden antworten, beides sei, von der jeweiligen Gegenseite aus gesehen, richtig.
Wie aus den angeführten Beispielen hervorgeht, ist das Stadium, in dem den Unterdrückten die höhere Tugend zugeschrieben wird, vorübergehend und unsicher. Es setzt erst ein, wenn sich das schlechte Gewissen der Unterdrücker regt, und das rührt sich erst, wenn ihre Macht nicht mehr gesichert ist. Die Idealisierung des Opfers ist eine Zeitlang nützlich; wenn die Tugend das höchste Gut ist, und wenn die Unterwerfung die Menschen tugendhaft macht, dann erweist man ihnen eine Wohltat, wenn man ihnen die Macht verweigert, da diese ihre Tugend zerrütten würde. Wenn es für einen Reichen schwierig ist, in das Himmelreich einzugehen, so handelt er edel, wenn er seinen Reichtum behält und so seine ewige Seligkeit zugunsten seiner ärmeren Brüder aufs Spiel setzt. Edle Selbstaufopferung war es, die die Männer bewog, den Frauen das schmutzige Geschäft der Politik abzunehmen, und so fort. Aber früher oder später wird die unterdrückte Schicht ihre höhere Tugend ins Treffen fuhren als einen Grund, ihr die Macht zu geben, und die Unterdrücker werden sich mit ihren eigenen Waffen angegriffen sehen. Ist schließlich die Macht gleichmäßig verteilt, so wird jeder einsehen, dass alles Gerede von der höheren Tugend Unsinn und zur Begründung des Anspruchs auf Gleichheit ganz unnötig war.
Was die Italiener und Ungarn, die Frauen und Kinder betrifft, so haben wir schon den ganzen Kreis dieser Entwicklung durchlaufen. Wir befinden uns aber noch mitten darin in dem einen Fall, der gegenwärtig von größter Bedeutung ist – nämlich dem des Proletariats. Die Bewunderung des Proletariats ist sehr modern. Wenn man im achtzehnten Jahrhundert das Lob der »Armen« sang, so dachte man dabei immer an die Armen auf dem Lande. Jeffersons Demokratie hörte beim städtischen Pöbel auf; er wünschte, dass Amerika ein Land der Ackerbauer bleibe. Die Bewunderung des Proletariats gehört wie die von Staudämmen, Kraftwerken und Flugzeugen zur Ideologie des Maschinenzeitalters. Menschlich betrachtet, hat sie so wenig für sich wie der Glaube an die Zauberkraft der Kelten, die slawische Seele, die Intuition der Frauen und die Unschuld der Kinder. Wäre es wirklich so, dass schlechte Ernährung, unzulängliche Bildung, Mangel an Luft und Sonne, ungesunde Wohnverhältnisse und Überarbeitung bessere Menschen hervorbringen als gute Ernährung, frische Luft, angemessene Schul und Wohnverhältnisse und ein vernünftiges Maß an Freiheit, dann bräche die ganze Forderung nach wirtschaftlichem Wiederaufbau in sich zusammen und wir dürften uns freuen und frohlocken, dass ein so hoher Prozentsatz der Bevölkerung jene Vorteile genießt, welche die
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