Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
entgegengesetzte Haltungen ein: einerseits war das Weib die Versucherin, die Mönche und andere zur Sünde verführte; andrerseits war sie der Heiligkeit in beinahe höherem Maße fähig als der Mann. Theologisch wurden diese beiden Typen durch Eva und die Jungfrau Maria verkörpert. Im neunzehnten Jahrhundert trat die Versucherin in den Hintergrund; es gab natürlich »schlechte« Frauen, aber die ehrenwerten Viktorianer wollten, im Gegensatz zum heiligen Augustinus und seinen Nachfolgern, nicht zugeben, dass solche Sünderinnen sie versuchen konnten, und liebten es nicht, ihre Existenz überhaupt anzuerkennen. Eine Art Mittelding zwischen der Madonna und der Dame der Ritterzeit wurde zum Ideal der gewöhnlichen verheirateten Frau erhoben. Sie war zart und zierlich, sie hatte den Schmelz einer Blüte, der durch die Berührung mit der rauen Welt weggewischt werden, und Ideale, die unter der Berührung mit dem Bösen leiden konnten. Wie die Kelten, die Slawen und der edle Wilde, aber in noch höherem Maße, war sie ein geistiges Wesen, was sie dem Manne überlegen, aber für das Geschäftsleben, die Politik oder die Verwaltung ihres eigenen Vermögens ungeeignet machte. Diese Anschauung ist immer noch nicht ganz ausgestorben. Erst kürzlich sandte mir in Erwiderung auf eine Rede, die ich zugunsten gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit gehalten hatte, ein englischer Lehrer eine Flugschrift, die von einem Lehrerverband veröffentlicht wurde und die gegenteilige Meinung vertritt, die sie mit sonderbaren Argumenten stützt. Es heißt dort von der Frau: »Wir geben ihr mit Freuden den Vorrang als einer geistigen Kraft; wir anerkennen und verehren sie als das Engelhafte im Menschen; wir anerkennen ihre Überlegenheit in aller Anmut und Verfeinerung, deren wir als Menschen fähig sind; wir wünschen, dass sie alle ihre gewinnenden fraulichen Eigenschaften behält.« »Daher erlassen wir diesen Aufruf« – dass Frauen sich mit niedrigerer Bezahlung zufriedengeben sollten – »nicht aus Selbstsucht, sondern aus Achtung und Ergebenheit gegenüber unseren Müttern, Gattinnen, Schwestern und Töchtern ... Unsere Sache ist eine heilige Sache, ein wahrer geistiger Kreuzzug.«
Vor fünfzig oder sechzig Jahren hätte ein solcher Ton keinen Kommentar ausgelöst, außer bei einer Handvoll Feministen; heute, da die Frauen das Stimmrecht erworben haben, scheint er uns ein Anachronismus. Der Glaube an ihre »geistige« Überlegenheit war eine unerlässliche Voraussetzung für den Entschluss, sie wirtschaftlich und politisch weiterhin rechtlos zu halten. Als die Männer in dieser Schlacht besiegt waren, mussten sie die Frauen achten und gaben es daher auf, ihnen als Trost für ihre untergeordnete Stellung »Ehrfurcht« zu erweisen.
Eine ähnliche Entwicklung hat die Auffassung vom Kinde bei den Erwachsenen durchgemacht. Kinder galten wie die Frauen, theologisch gesehen, als böse, besonders bei den Anhängern der Niederkirche. Sie waren Kinder des Satans, sie waren noch nicht wiedergeboren; wie Dr. Watts so unvergleichlich sagte:
»Ein Streich nur von des Herrn allmächt'ger Rute
kann junge Sünder schnell zur Hölle senden.«
Es war daher notwendig, sie zu »erlösen«. In Wesleys Schule »wurde einst eine allgemeine Bekehrung erzielt, ... ausgenommen nur ein einziger armer Junge, der sich unglücklicherweise dem Einfluss des Heiligen Geistes widersetzte, wofür er tüchtig durchgeprügelt wurde ... « Aber im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, als die elterliche Autorität, wie die der Könige, der Priester und der Ehemänner sich bedroht fühlte, kamen feinere Methoden zur Unterdrückung des Ungehorsams in Mode. Kinder waren »unschuldig«; wie gute Frauen, so hatten auch sie den »Schmelz einer Blüte«; man musste sie vor dem Bösen bewahren, auf dass ihr Schmelz nicht verloren gehe. Darüber hinaus war ihnen eine besondere Art Weisheit eigen. Wordsworth machte diese Anschauung im englischen Sprachbereich populär. Er schuf als erster die Mode, Kinder auszustatten mit
»Edlen Trieben, die, was sterblich ist an uns, erzittern ließen gleich ertappten Sündern.«
Niemand hätte im achtzehnten Jahrhundert zu seiner kleinen Tochter gesagt (außer sie wäre tot gewesen):
»Du ruhst tagaus, tagein im Schoße Abrahams und betest vor des Tempels innrem Heiligtum.«
Aber im neunzehnten Jahrhundert wurde diese Anschauung gang und gäbe, und ehrbare Angehörige der Anglikanischen Kirche oder selbst der
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