Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
und Eichhörnchen, Nachtigallen und Lerchen sie überleben würden, dann könnte ich dieser Katastrophe mit einigem Gleichmut entgegensehen; der Mensch hat ja bewiesen, dass er nicht würdig ist, der Herr der Schöpfung zu sein. Allein man muss fürchten, dass die fürchterliche Alchimie der Atombombe alle Lebensformen gleichermaßen zerstören und die Erde für immer ein toter Klumpen bleiben wird, der sinnlos um eine nutzlose Sonne wirbelt. Ich kenne den unmittelbaren Anlass nicht, der diese interessante Begebenheit auslösen wird. Vielleicht wird es ein Streit um persisches Öl, vielleicht eine Auseinandersetzung um den Handel mit China, vielleicht ein Kampf zwischen Juden und Mohammedanern um die Herrschaft in Palästina sein. Jeder Patriot wird einsehen, dass diese Fragen so bedeutend sind, dass man um ihretwillen die Ausrottung der Menschheit einer feigen Versöhnung vorziehen muss.
Sollten jedoch einige meiner Leser die Menschheit gerne weiterleben sehen, so ist es vielleicht der Mühe wert, den Bestand an moralischen Ideen zu überblicken, die große Männer der Welt verkündet haben und die, wenn sie Gehör fänden, dem größten Teil der Menschheit Glück statt Unglück bringen könnten.
Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, ist der Mensch ein seltsames Zwitterwesen zwischen Engel und Teufel. Er kann die Herrlichkeit der Nacht empfinden, die zarte Schönheit von Frühlingsblumen, die zarte Rührung der Elternliebe, die betörende Süßigkeit geistiger Erkenntnis. In einsichtsvollen Augenblicken überkommen ihn Visionen, wie das Leben gelebt und die Beziehungen von Mensch zu Mensch gestaltet werden sollten. Die allumfassende Liebe zur Menschheit ist ein Gefühl, das vielen zuteil wurde und noch mehr Menschen zuteil werden könnte, wenn es die Welt nicht so schwer machte. Dies ist die eine Seite des Bildes. Seine Kehrseite sind Grausamkeit, Habgier, Gleichgültigkeit und Anmaßung. Menschen, ganz normale Menschen zwingen Kinder, die Vergewaltigung ihrer Mütter mitanzusehen. Um politischer Ziele willen bereiten Menschen ihren Gegnern Jahre hindurch unaussprechliche Qualen. Wir wissen, wie die Nazis mit den Juden in Auschwitz verfuhren. An Massengrausamkeit stehen die von den Russen angeordneten Deutschenaustreibungen den von den Nazis verübten Gräueltaten nicht viel nach. Und wie steht es mit uns edlen Engländern? Wir würden so etwas nie tun, o nein! Aber wir tun uns an saftigen Steaks und heißen Brötchen gütlich, während deutsche Kinder Hungers sterben, weil unsere Regierung sich scheut, unsere Empörung hervorzurufen, wenn sie uns zumutete, auf einen Teil unserer Genüsse zu verzichten. Wenn es ein Jüngstes Gericht gäbe, wie die Christen glauben, wie, glauben Sie, würden Ihre Entschuldigungen vor diesem endgültigen Tribunal sich anhören?
Moralische Ideen gehen manchmal Hand in Hand mit politischen Entwicklungen; manchmal überholen sie sie auch. Die Brüderlichkeit aller Menschen ist ein Ideal, das seinen ersten Auftrieb politischen Entwicklungen verdankt. Als Alexander den Osten eroberte, ging er daran, den Unterschied zwischen Griechen und Barbaren auszumerzen; zweifellos deshalb, weil sein griechisch-mazedonisches Heer zu klein war, ein so riesiges Reich mit Gewalt zu halten. Er zwang seine Offiziere, Frauen aus dem barbarischen Adel zu heiraten, während er selbst, um ein doppelt glänzendes Beispiel zu geben, gleich zwei Barbarenprinzessinnen heiratete. Infolge dieser Politik verschwanden allmählich der Stolz und die Exklusivität der Griechen, und die griechische Kultur breitete sich in vielen Ländern nichthellenischer Bevölkerung aus. Zeno, der Begründer der Stoa, der zur Zeit der Eroberung durch Alexander wahrscheinlich noch im Knabenalter stand, war ein Phönizier, und unter den führenden Stoikern waren wenige Griechen. Die Stoiker waren denn auch die geistigen Urheber der Idee, dass alle Menschen Brüder seien. Sie lehrten, alle seien Kinder des Zeus, und der Weise kenne keinen Unterschied zwischen Griechen und Barbaren, Sklaven und Freien. Als Rom die gesamte zivilisierte Welt unter seiner Herrschaft vereinigte, begünstigte die politische Lage die Ausbreitung dieser Lehre. In einer neuen Form, den breiten Massen und ihrem Gefühlsleben besser angepasst, vertrat das Christentum dann eine ähnliche Lehre. Christus sagte: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«, und auf die Frage »Wer ist denn mein Nächster?« antwortete er mit dem Gleichnis vom Guten
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