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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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erschüttern. Wenn sich der Mensch in unmerklichen Übergängen aus niederen Lebensformen entwickelt hatte, so wurden damit eine Reihe schwieriger Fragen aufgeworfen. In welchem Entwicklungsstadium erwarben unsere Vorfahren den freien Willen? In welchem Zustand ihrer langen Aufwärtsentwicklung von der Amöbe erhielten sie unsterbliche Seelen? Wann wurden sie zum ersten Mal einer Bosheit fähig, die einen wohlwollenden Schöpfer zwang, sie verdientermaßen ins ewige Feuer zu werfen? Die meisten waren der Meinung, dass eine solche Strafe für Affen zu hart wäre, trotz der fatalen Neigung dieser Tierchen, Europäern Kokosnüsse an den Kopf zu werfen. Wie aber stand es um den Pithecanthropus erectus? Hatte wirklich er den Apfel gegessen? Oder war es der Homo Pekiniensis, oder vielleicht der Piltdown-Mensch? Ich fuhr einmal nach Piltdown, konnte aber keine Anzeichen besonderer Verworfenheit in jenem Dörfchen bemerken; es schien sich auch seit urgeschichtlicher Zeit nicht sonderlich gewandelt zu haben. Dann waren es vielleicht die Neandertaler, die zuerst sündigten? Das klingt schon viel wahrscheinlicher, umso mehr, als sie ja in Deutschland lebten. Aber Spaß beiseite – auf solche Fragen kann es keine Antwort geben, und jene Theologen, die die Evolution nicht in Bausch und Bogen verwerfen, mussten ihre Anschauungen in beträchtlichem Ausmaß revidieren.
    Eine der »erhabenen« Vorstellungen, die sich als wissenschaftlich unbrauchbar erwiesen haben, ist die Seele. Ich will damit nicht sagen, dass es positive Beweise für ihre Nichtexistenz gibt; ich meine nur, dass die Seele, wenn sie existiert, doch in keinem auffindbaren Kausalgesetz eine Rolle spielt. Es gibt alle erdenklichen experimentellen Methoden, um festzustellen, wie sich Menschen und Tiere in verschiedenen Situationen verhalten. Man kann Ratten in Labyrinthe und Menschen in Stacheldrahtkäfige stecken und beobachten, welche Mittel sie anwenden, um daraus zu entkommen. Man kann Drogen anwenden und ihre Wirkung beobachten. Man kann eine männliche Ratte in eine weibliche verwandeln, obwohl ein entsprechendes Verfahren mit Menschen bisher noch nicht durchgeführt wurde, nicht einmal in Buchenwald. Es zeigt sich, dass man asoziales Benehmen durch medizinische Mittel oder durch die Schaffung einer besseren Umwelt bekämpfen kann, und die Idee der Sünde hat so einen ganz unwissenschaftlichen Beigeschmack erhalten, ausgenommen natürlich da, wo man sie auf die Nazis anwendet. Man hat allen Grund zur Hoffnung, dass durch das wissenschaftliche Studium der menschlichen Verhaltensweisen die Regierungen in Zukunft noch leichter als heute schon in der Lage sein werden, die Menschheit in feindselige Haufen blutdürstiger Verrückter zu verwandeln. Natürlich könnten die Regierungen auch das gerade Gegenteil tun und die Menschheit zu williger und freudiger Zusammenarbeit zu ihrem eigenen Glück anstatt zum Unglück anderer führen, aber nur, wenn es eine Weltregierung mit einem Monopol aller Kriegswaffen gibt. Ob dies eintreten wird, ist sehr die Frage.
    Dies führt mich zu der zweiten Gruppe von Ideen, die dem Menschen genützt hat oder einmal nützen kann; ich meine moralische Ideen im Gegensatz zu technischen. Bisher habe ich die gesteigerte Beherrschung der Naturkräfte behandelt, die der Mensch durch die Naturwissenschaft erworben hat; sie ist zwar eine Vorbedingung für den Fortschritt auf vielen Gebieten, doch gewährleistet sie allein aus sich selbst noch nichts, was wünschenswert wäre. Im Gegenteil zeigen die gegenwärtige Weltlage und die Angst vor einem Atomkrieg, dass wissenschaftlicher Fortschritt ohne gleichzeitigen moralischen und politischen Fortschritt die Katastrophe nur verschlimmern kann, die irregeleitete Technik herbeiführen mag. In abergläubischen Momenten bin ich versucht, an die Geschichte vom Turmbau zu Babel zu glauben, und ich fürchte dann, dass der ähnlichen, nur größeren Gottlosigkeit unserer eigenen Zeit eine noch tragischere und furchtbarere Heimsuchung bevorsteht. Vielleicht – so male ich mir das manchmal aus – will Gott nicht, dass wir den Mechanismus verstehen, mit dem er das materielle Universum lenkt. Vielleicht sind die Kernphysiker den letzten Geheimnissen so nahe gekommen, dass er die Zeit für gekommen hält, ihrer Arbeit Einhalt zu tun. Und welchen einfacheren Weg könnte er dazu einschlagen, als sie ihre Erfindungen bis zur Vernichtung der Menschheit fortsetzen zu lassen? Wenn ich mir vorstellen könnte, dass Rehe

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