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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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Samariter. Wer sich heute vergegenwärtigen will, wie dies Gleichnis von seinen Zuhörern aufgenommen wurde, muss Glas Wort »Samariter« durch »Deutscher« oder »Japaner« ersetzen. Ich fürchte, viele Christen von heute würden sich gegen eine solche Auslegung wehren, weil sie sie zu der Erkenntnis zwänge, wie weit sie sich von der Lehre des Stifters ihrer Religion entfernt haben. Eine ähnliche Lehre hatten schon viel früher die Buddhisten vertreten. Nach ihnen erklärte der Erleuchtete, er könne nicht glücklich sein, solange auch nur ein Mensch noch unglücklich sei. Es mag den Anschein haben, als hätten diese erhabenen ethischen Lehren auf die Welt kaum gewirkt; in Indien starb der Buddhismus aus, in Europa nahm man dem Christentum die meisten jener Elemente, die es von Christus überkommen hatte. Doch wäre dies meines Erachtens eine oberflächliche Ansicht. Das Christentum machte, sobald es den Staat erobert hatte, den Gladiatorenkämpfen ein Ende – nicht, weil sie grausam, sondern weil sie Götzendienst waren. Das Ergebnis war gleichwohl die Einschränkung der weitverbreiteten, systematischen Erziehung zur Grausamkeit, durch die das gemeine Volk in den römischen Städten entartete. Das Christentum tat auch viel, das Los der Sklaven zu lindern. Es richtete Wohlfahrtsorganisationen und Spitäler ein. Wenn auch die große Mehrheit der Christen es leider gar sehr an christlicher Nächstenliebe fehlen ließ, so lebte doch das Ideal weiter und beseelte zu allen Zeiten hervorragende Heilige. In neuer Form ging es in den Liberalismus der Neuzeit über und bleibt die Inspiration für viele unserer Hoffnungen in unserer düsteren Welt.
    Die Lösungsworte der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sind religiösen Ursprungs. Von der Brüderlichkeit habe ich schon gesprochen. Die Gleichheit war ein Merkmal der Orphischen Gesellschaften im alten Griechenland, von denen viele christliche Dogmen mittelbar herrühren. Zu diesen Gesellschaften wurden Sklaven und Frauen auf gleichem Fuß mit Bürgern zugelassen. Platos Eintreten für das Frauenstimmrecht, das manche neuzeitliche Leser überrascht hat, geht auf orphische Gebräuche zurück. Die Orphiker glaubten an Seelenwanderung und meinten, eine Seele, die in einem Leben im Körper eines Sklaven wohnt, könne in einem anderen Leben einem König gehören. Vom religiösen Standpunkt gesehen, ist es daher Torheit, zwischen einem Sklaven und einem König zu unterscheiden; beiden ist die Würde eigen, die einer unsterblichen Seele zukommt, und keiner kann in religiöser Hinsicht darüber hinaus noch mehr für sich beanspruchen. Diese Anschauung ging aus der Orphik in die Stoa und in das Christentum über. Lange Zeit hatte sie wenig praktische Wirkung, aber schließlich half sie, wann immer günstige Umstände es ermöglichten, mit, die Ungleichheiten im Sozialgefüge abzuschleifen. Man lese beispielsweise John Woolmans Journal. John Woolman war ein Quäker und einer der ersten Amerikaner, die gegen die Sklaverei auftraten. Zweifellos war der eigentliche Grund seines Eintretens für die Sklaven Menschlichkeit; aber er verstand es, dies Gefühl zu stärken und ihm in Auseinandersetzungen mehr Gewicht zu verschaffen durch die Berufung auf christliche Lehren, die offen zu verleugnen seine Mitmenschen sich scheuten.
    Die Freiheit als Ideal hat eine sehr abwechslungsreiche Geschichte. Im Altertum konnte Sparta als totalitärer Staat damit so wenig anfangen wie die Nazis. Aber die meisten griechischen Stadtstaaten gewährten ein Ausmaß an Freiheit, das wir heute für übertrieben halten würden und tatsächlich für übertrieben halten, wenn es heute von ihren Nachkommen in derselben Weltgegend praktiziert wird. Politik wurde mit Meuchelmorden und rivalisierenden Heeren gemacht, deren eines hinter der Regierung stand, das andere sich aus Flüchtlingen zusammensetzte. Die Flüchtlinge machten oft mit den Feinden der Stadt gemeinsame Sache und folgten beim siegreichen Einmarsch den Eroberern auf den Fersen. Diese Handlungsweise war ganz allgemein, und trotz vieler Schönrednerei in den Werken moderner Historiker über die Loyalität der Griechen zum Stadtstaat hielt anscheinend niemand ein solches Benehmen für besonders schändlich. Das hieß die Freiheit übertreiben, und die Reaktion darauf war die Verherrlichung Spartas.
    Das Wort »Freiheit« hat zu verschiedenen Zeiten seltsame Bedeutungen gehabt. In der späten Republik und frühen

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