Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Kaiserzeit in Rom bedeutete es das Recht mächtiger Senatoren, Provinzen auszuplündern und sich dadurch zu bereichern. Brutus, den die meisten englischsprechenden Leser als den hochgemuten Helden von Shakespeares »Julius Caesar« kennen, war in Wirklichkeit ein ganz anderer Mann. Er pflegte einer Stadtgemeinde eine 60prozentige Anleihe zu gewähren; konnte sie dann die Zinsen nicht zahlen, so warb er eine Privatarmee an und belagerte sie, was ihm sein Freund Cicero milde verwies. Heutzutage hat das Wort »Freiheit« im Munde von Industriemagnaten eine ganz ähnliche Bedeutung. Abgesehen von diesen Absonderlichkeiten gibt es zwei ernsthafte Auslegungen des Begriffes »Freiheit«: einerseits die Freiheit eines Volkes von fremder Herrschaft, andererseits die Freiheit des Bürgers, seinen rechtmäßigen Beschäftigungen nachzugehen. In einer wohlgeordneten Welt müssten beide gewissen Beschränkungen unterworfen sein; leider hat man aber die erstgenannte im absoluten Sinn aufgefasst. Ich werde auf diesen Gesichtspunkt gleich zurückkommen, möchte aber zunächst über die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers sprechen.
Diese Art Freiheit fand ihren Weg in die praktische Politik zunächst in der Form der Toleranz, einer Lehre, die im siebzehnten Jahrhundert viele Anhänger fand, da es weder Protestanten noch Katholiken gelang, die Gegenpartei auszurotten. Nachdem sie einander hundert Jahre lang bekämpft hatten – ein Kampf, der seinen Höhepunkt in den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges erreichte und nachdem man erkennen musste, dass als Ergebnis des ganzen Blutvergießens am Ende wieder fast genau das gleiche Kräfteverhältnis bestand wie am Anfang, wiesen einige geniale Männer – meist Holländer – darauf hin, dass vielleicht alles Morden unnötig gewesen sei, und dass man den Menschen gestatten könne, über Fragen wie Konsubstantiation, Transsubstantiation und Kommunion unter beiderlei Gestalten nach eigenem Ermessen zu denken. Die Lehre von der religiösen Toleranz kam nach England mit dem holländischen König Wilhelm; zugleich kamen die Bank von England und die Staatsschuld. Eigentlich waren sie alle drei Erzeugnisse des Handelsgeistes.
Zu jener Zeit war der größte theoretische Verfechter der Freiheit John Locke, der sich eingehend mit dem Problem befasste, wie man die größtmögliche Freiheit mit dem unerlässlichen Mindestmaß an Regierungsgewalt in Einklang bringen könne; eine Frage, die seine Nachfolger in der liberalen Tradition seither beschäftigt hat und heute noch beschäftigt.
Neben der Religionsfreiheit wurden auch Presse-und Redefreiheit sowie Freiheit von willkürlicher Verhaftung im neunzehnten Jahrhundert wenigstens in den westlichen Demokratien zu selbstverständlichen Grundrechten. Aber sie hatten in den Herzen und Hirnen der Menschen viel weniger tiefe Wurzeln geschlagen als man damals glaubte, und heute ist auf dem größten Teil der Erdoberfläche nichts mehr davon übrig, weder in der Theorie noch in der Praxis. Stalin konnte den Standpunkt weder verstehen noch achten, der Churchill bestimmte, sich durch das Ergebnis einer Volkswahl auf friedlichem Wege absetzen zu lassen. Ich bin entschiedener Anhänger einer demokratischen indirekten Demokratie als der besten Regierungsform für alle, die die erforderliche Toleranz und Selbstzucht besitzen, mit der allein sie arbeiten kann. Aber ihre Anhänger irren, wenn sie glauben, man könne sie von heute auf morgen in Ländern einführen, wo dem Durchschnittsbürger immer noch alle Übung im Geben und Nehmen, der Voraussetzung der Demokratie, fehlt. In einem Balkanland stellte vor nicht allzu langer Zeit eine Partei, die bei den allgemeinen Wahlen knapp unterlegen war, ihre Überlegenheit wieder her, indem sie von den Abgeordneten der Gegenpartei eine Anzahl erschießen ließ, die hinreichte, ihr wieder die Mehrheit zu sichern. Typisch für den Balkan – so dachte man damals im Westen, und vergaß ganz, dass Cromwell und Robespierre ebenso vorgegangen waren.
Und damit komme ich zu dem letzten großen politischen Ideenpaar, dem die Menschheit jeden kleinen Erfolg der sozialen Organisation, den sie überhaupt erzielt hat, verdankt. Ich meine die Idee des Rechtes und der Regierung. Von diesen beiden ist die Regierung die ursprünglichere. Regierung kann auch ohne Recht leicht bestehen, nicht aber Recht ohne Regierung – was die Initiatoren des Völkerbundes und des Kellogg-Paktes vergessen hatten. Die Regierung lässt sich definieren
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