Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
und Wissenschaft gewonnen wird, wird zweifellos sehr weitgehend dem reinen Vergnügen gewidmet werden, aber es wird eine Anzahl Menschen übrig bleiben, denen der Dienst an Kunst und Wissenschaft immer noch am Herzen liegen wird. Nach der Abschüttelung der wirtschaftlichen Fesseln, die an die bloßen materiellen Lebensnotwendigkeiten binden, wird eine ganz neue Freiheit herrschen, und die große Masse der Menschen wird jene sorglose Abenteuerlust genießen, die die reichen athenischen Jünglinge in Platos Dialogen auszeichnet. Alles dies liegt durchaus im Bereich der technischen Möglichkeiten. Es erfordert zu seiner Verwirklichung nur Eines: dass die Machthaber und die Völker, die hinter ihnen stehen, es für wichtiger hielten, sich selbst am Leben zu erhalten, als ihre Feinde zu töten. Kein sehr erhabenes oder schwieriges Ideal, möchte man meinen, und doch eines, dass menschliche Einsicht bisher nicht erreicht hat.
Der gegenwärtige Augenblick ist der bedeutsamste und entscheidendste, in dem sich die Menschheit jemals befand. Von unser aller Einsicht während der nächsten zwanzig Jahre hängt es ab, ob die Menschheit in eine nie dagewesene Katastrophe stürzt oder aber einen neuen Zustand der Glückseligkeit, Sicherheit, Wohlfahrt und Einsicht erreicht. Ich weiß nicht, welchen der beiden Wege sie einschlagen wird. Wir haben schwerwiegende Gründe zur Besorgnis; doch haben wir noch genug Aussichten auf eine gute Lösung, so dass die Hoffnung nicht vergeblich scheint. Und in dieser Hoffnung müssen wir handeln.
IDEEN, DIE DER MENSCHHEIT GESCHADET HABEN
sponsored reading by www.boox.to
D ie Unglücksfälle, die dem Menschen zustoßen können, lassen sich in zwei Gruppen einteilen: erstens die, welche ihm die außermenschliche Umwelt, und zweitens die, welche ihm der Mitmensch zufügt. Diese zweite Gruppe ist mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt des Menschen zu einem immer größeren Prozentsatz aller Unglücksfälle geworden. In alten Zeiten hatte beispielsweise die Hungersnot natürliche Ursachen und forderte, obwohl man sie nach Kräften bekämpfte, zahlreiche Opfer. Heute sehen sich weite Gebiete einer Hungersnot gegenüber; allein obgleich auch natürliche Ursachen dazu beigetragen haben, so liegen doch ihre tieferen Ursachen beim Menschen selbst. Sechs Jahre lang setzten die zivilisierten Völker der Welt ihre besten Kräfte ein, einander zu töten, und es fällt ihnen nun schwer, sich plötzlich darauf umzustellen, einander am Leben zu erhalten. Nun sie Ernten vernichtet, landwirtschaftliche Maschinen demontiert und das Transportwesen unterbunden haben, ist es schwer, die Nahrungsknappheit hier durch Überfluss von dort zu beheben, was unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen ein leichtes wäre. Wie dies Beispiel zeigt, ist heute der Mensch der schlimmste Feind des Menschen. Zwar sorgt die Natur immer noch dafür, dass wir sterblich sind, aber die Fortschritte der Medizin werden immer mehr Menschen ein langes und reiches Leben bescheren. Wir hegen angeblich den Wunsch nach einem ewigen Leben und freuen uns auf die nicht endende Glorie des Himmels, die wundersamerweise nie eintönig werden soll. Fragt man aber wirklich einen aufrichtigen, nicht mehr jungen Menschen, so wird er einem sehr wahrscheinlich antworten, er habe das Leben im Diesseits kennen gelernt und trage kein Verlangen, im Jenseits noch einmal als Neugeborener anzufangen. Für die Zukunft wird man daher annehmen dürfen, dass die bei weitem schlimmsten Übel, mit denen die Menschen zu rechnen haben, jene sind, die sie einander durch Dummheit, Bosheit oder beides zusammen zufügen.
Ich glaube, die Leiden, die Menschen einander und dadurch mittelbar sich selbst zufügen, haben ihre Hauptquelle nicht so sehr in Ideen oder Überzeugungen als in üblen Leidenschaften. Aber Ideen und Prinzipien, die wirklich schädlich sind, dienen in der Regel, wenn auch nicht immer, als Deckmantel übler Leidenschaften. In Lissabon geschah es manchmal bei öffentlichen Ketzerverbrennungen, dass man einem Verurteilten auf Grund eines besonders erbaulichen Widerrufs die Gnade erwies, ihn zu hängen, bevor man ihn den Flammen übergab. Dies empörte die Schaulustigen so sehr, dass die Behörden sie nur mit Mühe davon abhalten konnten, an dem reuigen Sünder Lynchjustiz zu üben und ihn auf eigene Faust zu verbrennen. Der Anblick der sich vor Schmerzen krümmenden Opfer war wirklich eine der Hauptvergnügungen, auf die sich das
Weitere Kostenlose Bücher