Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
man kann Rousseaus Sehnsucht nach dem Leben des edlen Wilden nachfühlen. Dies aber war nur ein romantisches Idealbild; in Wirklichkeit war das Leben des Wilden, wie Hobbes sagte, »garstig, tierisch und kurz«. Die Geschichte des Menschen kennt gelegentliche einschneidende Krisen. Es muss solch eine Krise gegeben haben, als die Affen ihre Schwänze verloren, und eine weitere, als unsere Ahnen anfingen, aufrecht zu gehen und ihr schützendes Fell einbüßten. Wie ich oben bemerkte, vermehrte sich die menschliche Bevölkerung des Erdballs, die einmal sehr gering gewesen sein muss, mit der Erfindung des Ackerbaues bedeutend, und in unserer Zeit noch einmal durch die Fortschritte der Industrie und Medizin. Aber die moderne Technik hat uns in eine neue Krise gestürzt, und uns bleiben nur zwei Wege offen: entweder muss der Mensch wieder eine seltene Spezies werden, wie zur Zeit des Homo Pekiniensis, oder wir müssen lernen, uns einer Weltregierung zu unterwerfen. Jede solche Regierung, sei sie nun gut, schlecht oder keines von beiden, wird das Fortleben der Spezies Mensch ermöglichen; und wie im Laufe der letzten 5000 Jahre die Menschen allmählich aus dem Despotismus der Pharaonenzeit die glorreichen Höhen der amerikanischen Verfassung erklommen haben, so mögen sie vielleicht in den nächsten 5000 Jahren von einer schlechten Weltregierung zu einer guten fortschreiten. Errichten sie aber keinerlei Weltregierung, so wird der neue Fortschritt auf einem niedereren Stande einsetzen, vielleicht dem wilder Stämme, und wird erst nach einer katastrophalen Zerstörung beginnen können, vergleichbar nur mit dem biblischen Bericht über die Sintflut. Wenn wir die lange Entwicklung des Menschen überschauen – ein seltenes, gehetztes Tier, das sich vor der Raserei der wilden Tiere, die er nicht erlegen konnte, dürftig in Höhlen verbarg; sich von den rohen Früchten der Erde, die er nicht zu ziehen verstand, kümmerlich nährte; wirklich vorhandene Schrecken noch durch eingebildete, durch Geister, Unholde und bösen Zauber verschlimmerte; dann sich allmählich zum Herrn über seine Umwelt aufschwang durch die Erfindung des Feuers, des Schreibens, der Waffen, und schließlich der Wissenschaft; dann ein soziales Gefüge errichtete, das privater Gewalttat einen Riegel vorschob und dem täglichen Leben eine gewisse Sicherheit verlieh; die Muße, die ihm seine Geschicklichkeit verschaffte, nicht nur müßigem Wohlleben, sondern dem Dienst am Schönen und der Enthüllung der Naturgeheimnisse widmete; allmählich, wenn auch unvollkommen, immer mehr Mitmenschen als Verbündete zu gemeinsamer Erzeugung statt als Feinde betrachten lernte, die versuchen, einander zu berauben – wenn wir diesen langen und dornenvollen Weg betrachten, so wird der Gedanke unerträglich, dass wir ihn vielleicht nochmals von Anfang an gehen müssen, weil wir versagten, als es galt, den einen Schritt zu tun, auf den uns die Ereignisse der Vergangenheit, richtig betrachtet, schon vorbereitet haben. Der soziale Zusammenhang, der sich bei den Affen auf die Familie beschränkte, dehnte sich schon in vorgeschichtlicher Zeit auf den Stamm aus und erreichte gerade zu Beginn der Geschichte den Umfang kleiner Königreiche in Ober-und Unterägypten und Mesopotamien. Aus diesen kleinen Staaten erwuchsen die großen Reiche des Altertums, und dann allmählich die heutigen Großstaaten, viel größer als selbst das Römerreich. Erst die jüngsten Ereignisse haben die kleineren Staaten jeder wirklichen Unabhängigkeit beraubt, sodass heute nur mehr zwei übrigbleiben, die sich ihre volle Unabhängigkeit und ihre Entschlussfreiheit bewahrt haben: ich meine natürlich die Vereinigten Staaten und die UDSSR. Alles, was wir brauchen, um die Menschheit vor der Katastrophe zu retten, ist der Schritt von zwei unabhängigen Staaten zu einem einzigen – nicht durch Krieg, was verhängnisvoll wäre, sondern durch ein Übereinkommen.
Kann dieser Schritt vollzogen werden, so werden alle großen Errungenschaften der Menschheit binnen kurzem eine Ära der Glückseligkeit und des Wohlstandes heraufführen, die man sich nie zuvor träumen ließ. Unsere technischen Fertigkeiten werden uns in die Lage versetzen, die Armut auf dem ganzen Erdball auszumerzen, ohne dass hierzu mehr als vier bis fünf Stunden täglicher produktiver Arbeit nötig sind. Die Krankheiten, die in den letzten hundert Jahren rapid abnahmen, wird man noch weiter herabdrücken können. Die Muße, die durch Organisation
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