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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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angenommen haben muss, haben anscheinend in der Psychologie seines Sohnes ihre Früchte getragen.
    Eine seltsame Auswirkung der Bedeutung, die jeder von uns sich selbst beimisst, ist die Vorstellung, die Handlungen unserer Mitmenschen zielten auf unser eigenes Glück oder Unglück ab. Wenn man im Zug an einer Wiese vorüberfährt, auf der Kühe weiden, so kann man sie manchmal erschreckt davonstieben sehen. Wäre die Kuh ein Metaphysiker, so würde sie folgendermaßen argumentieren:
    »Alles, was in meinen eigenen Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen enthalten ist, bezieht sich auf mich selbst. Daher schließe ich induktiv, dass alles im Universum sich auf mich bezieht. Daher will mir dieser lärmende Zug entweder Gutes oder Böses tun. Ich kann nicht annehmen, dass er Gutes im Schilde führt, da er sich in so furchterregender Form nähert; daher werde ich mich als weise Kuh bemühen, ihm zu entrinnen.« Wollte man dieser metaphysischen Wiederkäuerin erklären, dass der Zug nicht beabsichtigt, die Schienen zu verlassen, und mit dem Geschick der Kuh gar nichts zu tun hat, so wäre das arme Tier verwirrt, dass es etwas so Unnatürliches geben könne. Der Zug, der ihr weder Gutes noch Böses will, würde ihr kälter, unergründlicher und schrecklicher erscheinen als ein Zug, der ihr Übles wollte. Genau so geht es dem Menschen. Der Lauf der Natur bringt ihm manchmal Glück, manchmal Unheil. Er kann nicht glauben, dass das Zufall ist. Die Kuh, die sich einer Gefährtin erinnert, welche sich auf die Schienen verirrte und von einem Zug überfahren wurde, würde ihren philosophischen Erwägungen weiter nachhängen, wenn sie mit jener bescheidenen Intelligenz ausgestattet wäre, die die meisten Menschen auszeichnet, und würde zu dem Schluss kommen, dass die unglückliche Kuh für ihre Sünden von dem Gott der Eisenbahn bestraft wurde. Sie wäre froh, wenn dessen Priester entlang den Schienen Zäune aufstellten, und würde jüngere und keckere Kühe warnen, niemals zufällige Öffnungen im Zaun zu benützen, da der Lohn der Sünde der Tod ist. Durch ähnliche Mythen ist es den Menschen unter Wahrung ihrer Selbstüberhebung gelungen, viele Unglücksfälle zu erklären, denen sie ausgesetzt sind. Aber manchmal kommt das Unheil über die ganz Tugendhaften, und was sollen wir dann sagen? Unser Gefühl, dass wir der Mittelpunkt des Universums sein müssen, wird uns auch dann hindern, zuzugeben, dass Unglücksfälle uns einfach zustießen, ohne dass irgend jemand sie beabsichtigte; und da wir theoretisch nicht sündhaft sind, muss unser Unglück auf irgend eine Bosheit von außen zurückgehen, das heißt, auf jemand, der uns aus purem Hass verletzen will, nicht in der Hoffnung, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Aus dieser Geisteshaltung entstand der Glaube an Dämonen, Hexen und Schwarze Kunst. Die Hexe schadet ihrem Nächsten aus reinem Hass, nicht aus Gewinnsucht. Der Hexenglaube lieferte bis ungefähr zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts einen höchst willkommenen Vorwand für das süße Gefühl selbstgerechter Grausamkeit. Er konnte sich auf die Bibel berufen, die sagt: »Du sollst keine Hexe am Leben lassen.« Und aus diesem Grund bestrafte die Inquisition nicht nur Hexen, sondern auch alle, die nicht an Hexerei glaubten, da der Unglaube daran Ketzerei war. Die Naturwissenschaft brachte einiges Licht in die Kausalzusammenhänge der Natur und zerstörte so den Glauben an die Zauberei, konnte aber die Angst und das Gefühl der Unsicherheit, aus dem er entstanden war, nicht völlig bannen. Heute finden dieselben Gefühle ein Ventil in der Angst vor fremden Völkern, einer Angst, die, wie man zugeben muss, der Verstärkung durch den Aberglauben nicht sonderlich bedarf.
    Eine Hauptursache falscher Überzeugungen ist der Neid. In jeder Kleinstadt wird man bei Befragen der verhältnismäßig Wohlhabenden finden, dass sie alle das Einkommen ihrer Nachbarn übertreiben, was ihnen einen Vorwand gibt, sie des Geizes zu beschuldigen. Die Eifersucht der Frauen ist unter Männern sprichwörtlich, aber in jedem großen Amt wird man unter männlichen Beamten genau die gleiche Eifersucht finden. Wird einer von ihnen befördert, so heißt es bei den anderen: »Na ja! Der N. N. versteht es eben, sich mit den Großen gut zu stellen. Ich hätte genau so rasch aufsteigen können wie er, hätte ich mich zu der Kriecherei erniedrigt, deren er sich nicht schämt. Gewiss hat seine Arbeit einen oberflächlichen Schliff, aber sie ist

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