Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Verdienste der beiden Geschlechter unparteiisch abwägen; im Falle unserer eigenen Spezies fällt uns das schon schwerer. Die Überlegenheit des Mannes war früher leicht zu demonstrieren, denn wenn eine Frau die ihres Mannes bezweifelte, so konnte er sie schlagen. Die Männer galten als vernünftiger als die Frauen, erfinderischer, weniger Sklaven ihrer Gefühle und dergleichen mehr. Als die Frauen noch kein Stimmrecht hatten, leiteten die Anatomen aus dem Studium des Gehirns eine Reihe scharfsinniger Argumente ab, um zu beweisen, dass die geistigen Fähigkeiten des Mannes größer sein mussten als die der Frau. Diese Argumente erwiesen sich eins nach dem andern als trügerisch, wurden aber immer wieder durch andere ersetzt, die dieselben Schlüsse zuließen. Man glaubte lange, dass der männliche Fötus nach sechs Wochen eine Seele bekomme, der weibliche hingegen erst nach drei Monaten. Auch diese Meinung wurde aufgegeben, seitdem die Frauen das Stimmrecht besitzen. Thomas von Aquin erwähnt beiläufig als etwas ganz Selbstverständliches, dass Männer vernünftiger seien als Frauen. Ich meinerseits kenne keinen Beweis dafür. Einige wenige Menschen besitzen ein Fünkchen Vernunft auf diesem oder jenem Gebiet, aber soweit meine Beobachtungen reichen, sind solche Fünkchen unter Männern nicht häufiger als unter Frauen.
Die Vorherrschaft des Mannes hat einige sehr unglückliche Ergebnisse gezeitigt. Sie hat die innigste menschliche Bindung, die Ehe, zu einem Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven gemacht, anstatt zu einem Bund gleichberechtigter Partner. Sie machte es überflüssig für einen Mann, einer Frau zu gefallen, um sie als seine Frau zu gewinnen, und beschränkte so die Künste der Werbung auf außereheliche Verhältnisse. Durch die Abschließung, die sie ehrbaren Frauen aufzwang, machte sie sie langweilig und uninteressant; die einzigen Frauen, die interessant und unternehmungslustig sein durften, waren aus der Gesellschaft ausgestoßen. Da ehrbare Frauen so langweilig waren, wurden oft die zivilisiertesten Männer in den zivilisiertesten Ländern homosexuell. Der Umstand, dass es keine Gleichheit in der Ehe gab, bestärkte die Männer noch in ihren selbstherrlichen Gewohnheiten. Dies alles ist heute in zivilisierten Ländern so gut wie vorbei, aber es wird lange dauern, bis sowohl Männer wie Frauen gelernt haben, ihr Benehmen den geänderten Verhältnissen vollkommen anzupassen. Jede Emanzipation hat zunächst gewisse schlimme Folgen: sie ruft bei den früher Überlegenen Verstimmung, bei den früher Unterlegenen Selbstherrlichkeit hervor. Aber wir dürfen hoffen, dass die Zeit auch hier heilen wird.
Eine andere Überlegenheit, die in schnellem Aussterben begriffen ist, ist die der Klasse; sie lebt heute nur noch in Sowjetrussland fort. In diesem Land ist der Sohn eines Proletariers gegenüber dem eines Bourgeois im Vorteil; in der übrigen Welt gelten solche erbliche Privilegien als ungerecht. Die Klassengegensätze sind jedoch noch lange nicht zur Gänze verschwunden. In Amerika ist jedermann überzeugt, dass in der gesellschaftlichen Rangordnung niemand über ihm steht, er gibt aber nicht zu, dass viele unter ihm stehen, denn seit Jefferson gilt die Lehre von der Gleichheit aller Menschen nur nach oben, nicht nach unten. Wo immer man über dieses Thema in allgemeinen Begriffen spricht, herrscht eine abgrundtiefe und weit verbreitete Heuchelei. Wie man darüber wirklich denkt und fühlt, ist aus zweitklassigen Romanen ersichtlich, wo man 'erfährt, wie schrecklich es ist, nicht aus dem richtigen Milieu zu stammen, und wo von einer Mesalliance soviel Aufhebens gemacht wird wie früher an einem kleinen deutschen Fürstenhof. Solange es noch krasse Besitzunterschiede gibt, ist hier eine Änderung schwer abzusehen. In England, wo der Snobismus tief verwurzelt ist, hat der kriegsbedingte Einkommensausgleich stark auf die Gemüter gewirkt, und den Jüngeren scheint heute der Snobismus ihrer Väter ein wenig lächerlich. Es herrscht immer noch sehr viel beklagenswerter Snobismus in England, aber er betrifft heute mehr die Erziehung und die Sprechweise als das Einkommen oder die gesellschaftliche Stellung im alten Sinn des Wortes.
Eine andere Spielart desselben Gefühls ist der Glaubensstolz. Nach meiner kürzlichen Rückkehr aus China hielt ich vor mehreren Frauenvereinigungen Amerikas Vorträge über dieses Land. Unter meinen Zuhörern war immer eine ältere Frau, die während des Vortrages anscheinend
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