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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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zufügen könnte. Milton lässt ihn sagen:
     
»Der Geist ist selbst sich Ort, und in sich selbst Schafft er aus Himmel Höll', aus Hölle Himmel«,
     
    und seine Psychologie unterscheidet sich nicht sehr von der Tertullians, der frohlockt bei dem Gedanken, dass er vom Himmel auf die Leiden der Verdammten werde niederschauen können. Die asketische Enthaltung von Sinnenfreuden hat weder Freundschaft noch Toleranz noch eine jener anderen Tugenden gefördert, die eine nicht abergläubische Lebensanschauung uns wünschen lassen möchte. Im Gegenteil, wer sich selbst quält, meint ein Recht zu haben, auch andere zu quälen, und nimmt gerne jedes Dogma an, das ihn in diesem Recht bestärkt.
    Leider ist die asketische Form der Grausamkeit nicht auf die schrofferen Formen des christlichen Dogmas beschränkt, die heute selten in ihrer früheren Grausamkeit geglaubt werden. Die Welt hat neue, drohende Spielarten derselben psychologischen Beschaffenheit hervorgebracht. Die Nazis lebten in den Jahren vor ihrer Machtergreifung arbeitsam und opferten viele Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten, die ihnen der Augenblick bot, getreu ihrem Glauben an die Leistung und an Nietzsches Forderung, dass der Mensch hart werden solle. Selbst nach der Machtergreifung erforderte das Schlagwort »Kanonen statt Butter« immer noch den Verzicht auf sinnliche Freuden zugunsten der geistigen Genüsse, die man angesichts des bevorstehenden Sieges empfand – gerade jener Genüsse also, mit denen sich Miltons Satan über die Qualen im höllischen Feuer tröstet. Dieselbe Mentalität findet man bei ernsthaften Kommunisten, denen Luxus ein Übel, harte Arbeit die oberste Pflicht und allgemeine Armut der Weg zum tausendjährigen Reich ist. Die Mischung von Askese und Grausamkeit ist mit der Milderung des christlichen Dogmas nicht verschwunden, sondern hat neue Formen angenommen, die dem Christentum feindlich gegenüberstehen. Dieselbe Mentalität lebt noch zu einem großen Teil fort: die Menschheit zerfällt in Heilige und Sünder; die Heiligen werden im nazistischen oder kommunistischen Himmel die ewige Seligkeit erlangen, während die Sünder liquidiert werden oder aber solche Qualen erleiden müssen, wie man sie für Menschen in Konzentrationslagern nur ersinnen konnte; sie reichen natürlich nicht an jene heran, die, wie man glaubte, der Allmächtige in der Hölle bereiten konnte, sind aber immerhin die schlimmsten, die Menschen mit ihren beschränkten Mitteln erzielen können. Den Heiligen steht dann noch eine schwere Bewährungsfrist bevor, auf die »der Ruf der Triumphierenden, der Gesang der Feiernden« folgt, wie die christliche Hymne die Freuden des Himmels beschreibt.
    Da diese Geisteshaltung so hartnäckig scheint und sich so leicht hinter ganz neuen Dogmen verbirgt, muss sie ihre Wurzeln ziemlich tief in der Natur des Menschen haben. Das ist das Gebiet, auf dem die Psychoanalytiker tätig sind. Nun liegt es mir zwar ferne, alle ihre Lehren zu unterschreiben, aber ich glaube, dass ihre allgemeine Arbeitsweise wichtig ist, wenn wir die Wurzel des Übels in unserem innersten Herzen bloßlegen wollen. Die Polarität von Sünde und rächender Strafe liegt anscheinend vielem zugrunde, was zum Stärksten in der Religion wie in der Politik gehört. Ich kann nicht, wie einige Psychoanalytiker, glauben, dass das Gefühl der Sünde angeboren sei; freilich halte ich es für ein Produkt der ganz frühen Kindheit. Könnte dies Gefühl ausgemerzt werden, so nähmen meines Erachtens die Grausamkeiten in aller Welt ganz gewaltig ab. Angenommen, dass wir alle Sünder sind und Strafe verdienen, so lässt sich offenbar sehr viel für ein System sagen, das die Strafe nicht auf uns selbst, sondern auf andere fallen lässt. Die Kalvinisten würden kraft unverdienter Gnade in den Himmel eingehen, und ihre Erwartung, dass Sünde Strafe verdiene, würde nur eine stellvertretende Genugtuung erfahren. Ähnlich denken die Kommunisten. Wir können nicht darüber entscheiden, ob wir als Kapitalisten oder Proletarier zur Welt kommen wollen; werden wir aber als Proletarier geboren, so sind wir unter den Auserwählten; als Kapitalisten sind wir es nicht. Ohne jede freie Entscheidung unsrerseits, lediglich durch den Zwang des wirtschaftlichen Determinismus werden wir vom Schicksal im einen Fall in die Reihe der Auserwählten, im anderen der Gegenseite eingereiht. Marx's Vater wurde Christ, als Marx ein kleiner Junge war, und wenigstens einige der Dogmen, die er damals

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