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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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Unglück des anderen fest begründen kann. Heute trüben sittliche Mängel unser klares Denken, und verworrenes Denken begünstigt wiederum sittliche Mängel. Vielleicht werden, obwohl ich es kaum zu hoffen wage, die Schrecken der Wasserstoffbombe die Menschheit zu Vernunft und Toleranz bringen. Sollte sie es tun, so werden wir ihre Erfinder segnen dürfen.
     

BERÜHMTE MÄNNER, DIE ICH KANNTE
     
    I m Laufe meines Lebens habe ich viele berühmte Männer und Frauen gekannt, von viktorianischer Zeit bis in die Gegenwart. Nach meiner Erfahrung waren die unvergesslichsten oder eindrucksvollsten Persönlichkeiten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht die, welche in der Geschichte die größte Rolle spielten. Bei meiner einzigen Begegnung mit Königin Viktoria war ich zwei Jahre alt, und ich kann mich leider nicht mehr daran erinnern, aber die Großen bemerkten zu ihrer Überraschung, dass ich mich recht ehrerbietig benahm. Andrerseits begegnete ich im selben Alter zum ersten Mal Robert Browning, den viele für den größten Dichter seiner Zeit hielten; ich unterbrach seine Ausführungen mit den schrillen Worten: »Der Mann soll still sein!« In den letzten Jahren seines Lebens traf ich ihn noch oft und konnte nichts Ehrfurchtgebietendes an ihm entdecken. Er war ein umgänglicher, freundlicher alter Herr, recht häufiger Gast bei Teegesellschaften älterer Damen, nett, verbindlich und ganz an den Salon gewöhnt, ließ aber das göttliche Feuer vermissen, das man von einem Dichter erwartet.
    Tennyson hingegen, mit dem ich auch oft zusammentraf, mimte immer den Poeten und zog sich dadurch meine jugendliche Verachtung zu. Er stolzierte gerne in einem wallenden italienischen Mantel auf dem Lande umher, übersah geflissentlich jeden, der ihm begegnete und gab sich so, wie es einem entrückten Poeten geziemt. Von den übrigen Dichtern, die ich kennen lernte, ist mir Ernst Toller am unvergesslichsten geblieben, hauptsächlich durch seine Fähigkeit, fremdes Leid tief mitzufühlen. Rupert Brooke, den ich ziemlich gut kannte, war schön und lebensfroh, aber dieser Eindruck wurde getrübt durch einen Anflug Byronscher Unaufrichtigkeit und eine gewisse aufdringliche Eleganz.
    Von den berühmten Philosophen – noch Lebende übergehe ich —hat mir William James den stärksten Eindruck als Mensch gemacht, und dies trotz seiner vollkommenen Natürlichkeit und obwohl er nie das Bewusstsein zur Schau trug, ein großer Mann zu sein. Echter Demokrat, der er war, und erfüllt von dem Wunsche, sich mit der breiten Masse gleichzusetzen, blieb er doch unweigerlich ein Aristokrat des Herzens, dessen Persönlichkeit Ehrfurcht gebot. Gewisse Philosophen – es müssen nicht die fähigsten sein beeindrucken durch ihre innere Aufrichtigkeit. Dafür war mein Ethiklehrer Henry Sidgwick ein leuchtendes Beispiel. In seiner Jugend war die Würde eines Fellow an der Universität Cambridge nur denen zugänglich, die sich zur Unterzeichnung der Neununddreißig Glaubensartikel der englischen Staatskirche bereitfanden. Jahre, nachdem er unterzeichnet hatte, stiegen ihm Zweifel auf, und er hielt es für seine Pflicht, seine Stellung zurückzulegen, obwohl niemand von ihm eine Bekräftigung seiner unveränderten Gesinnung erwartete. Diese Tat beschleunigte den Umschwung in der Gesetzgebung, der den alten theologischen Einschränkungen ein Ende machte. Als Lehrer bewies er dieselbe Aufrichtigkeit und prüfte Einwände seiner Schüler ebenso höflich und eingehend, als wären sie von Kollegen erhoben worden. So wurde er ein besserer Lehrer als viele andere, die fähiger waren als er.
    Die besten Vertreter der Naturwissenschaften zeichnen sich durch eine besonders eindrucksvolle Mischung von scharfem Verstand und kindlicher Einfalt aus. Unter Einfalt verstehe ich hier nicht etwa Ungeschicklichkeit, sondern die Gewohnheit, unpersönlich zu denken, ohne Rücksicht auf die äußeren Vorteile oder Nachteile einer Meinung oder Handlung. Unter den Naturwissenschaftlern, die ich gekannt habe, ist Einstein ein hervorragendes Beispiel für diese Tugend.
    Was nun die Politiker betrifft, so habe ich sieben Premierminister gekannt, von meinem Großvater (der 1846 Premierminister war) bis auf Attlee. Der weitaus unvergesslichste von ihnen war Gladstone, von dem seine Bekannten nur als »Mister« Gladstone sprachen. Der einzige andere Mann des öffentlichen Lebens, der mir einen gleich tiefen persönlichen Eindruck machte, war Lenin. Gladstone war die Verkörperung des

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