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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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schlief, mich aber stets nachher mit unheilverkündender Miene fragte, warum ich es unterlassen hatte, darauf hinzuweisen, dass die Chinesen, die ja Heiden seien, natürlich keine Tugenden besitzen könnten. Ich stelle mir vor, die Mormonen von Salt Lake City müssen sich ähnlich benommen haben, als die ersten Nichtmormonen unter ihnen aufgenommen wurden. Das ganze Mittelalter hindurch waren Christen und Mohammedaner von der Verworfenheit der Gegenseite felsenfest überzeugt und konnten es nicht über sich gewinnen, ihre eigene Überlegenheit auch nur anzuzweifeln.
    Das alles sind wohltuende Gründe, sich »erhaben« zu fühlen. Wir brauchen zu unserem Glück die verschiedensten Stützen für unsere Selbstachtung. Wir sind Menschen, daher ist der Mensch der Zweck der Schöpfung. Wir sind Amerikaner, daher ist Amerika Gottes eigenes Land. Wir sind Weiße, und daher hat Gott Ham und seine Nachkommen verflucht, die schwarz waren. Wir sind Protestanten oder Katholiken, und daher sind Katholiken oder Protestanten, je nachdem, ein Gräuel. Wir sind Männer, daher sind die Frauen unvernünftig; oder Frauen, daher sind die Männer gefühllos und roh. Wir gehören zum Osten, daher ist der Westen wild und verworren; oder wir wohnen im Westen, und darum ist der Osten kraftlos und erschöpft. Wir sind geistige Arbeiter, daher zählen nur die Gebildeten; oder manuelle, darum ist es allein manuelle Arbeit, die dem Menschen Würde verleiht. Schließlich hat jeder von uns vor allem eine Tugend, die ganz einzig in ihrer Art ist – wir sind wir! Mit diesen tröstenden Überlegungen ziehen wir in den Kampf gegen die Welt; ohne sie gebräche es uns vielleicht an Mut. Wie die Dinge liegen, würden wir uns ohne sie vielleicht unterlegen fühlen, weil wir das Gefühl der Ebenbürtigkeit noch nicht kennen. Könnten wir uns zur ehrlichen Überzeugung durchringen, dass wir unseren Mitmenschen ebenbürtig, und weder überlegen noch unterlegen sind, dann würde unser Leben vielleicht weniger einem Kampf gleichen und wir bedürften nicht so vieler berauschender Mythen, um uns Mut anzutrinken.
    Einer der interessantesten und verhängnisvollsten Irrtümer, dem Menschen und ganze Völker erliegen können, ist es, sich für das besondere Werkzeug des göttlichen Willens zu halten. Wir wissen, dass beim Einfall der Israeliten in das Gelobte Land sie die Vollstrecker des göttlichen Willens waren und nicht die Hettiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perizziter, Hiviter oder Jebbusiter. Hätten diese anderen umfangreiche Geschichtswerke verfasst, so hätte der Sachverhalt vielleicht ein wenig anders ausgesehen. Und in der Tat hinterließen denn auch die Hettiter einige Inschriften, aus denen man nie vermuten möchte, was für verworfene Kreaturen sie waren. Man entdeckte – freilich erst »nach begangener Tat« – dass Rom von den Göttern zur Weltherrschaft bestimmt war. Dann kam der Islam mit seiner fanatischen Überzeugung, dass jeder im Kampf für den wahren Glauben gefallene Soldat schnurstracks ins Paradies eingehe, ein verheißungsvolleres Paradies als das der Christen, da Houris anziehender sind als Harfen. Cromwell war überzeugt, dass er das von Gott ausersehene Werkzeug seiner Gerechtigkeit zur Unterdrückung von Katholiken und Königstreuen sei. Andrew Jackson war der Arm der Vorsehung zur Befreiung Nordamerikas vom Alpdruck der Spanier, die den Sabbath entheiligten. Heute liegt das Schwert der göttlichen Vorsehung in den Händen der Marxisten. Hegel meinte, die Dialektik habe mit schicksalhafter Notwendigkeit Deutschland die Oberherrschaft verliehen. »Nein«, sprach Marx, »nicht Deutschland, sondern dem Proletariat«. Diese Lehre ist den früheren vom Auserwählten Volk und der göttlichen Vorsehung verwandt. In ihrem Fatalismus sieht sie den Kampf ihrer Gegner als einen Kampf gegen das Schicksal, und fordert, der Kluge solle sich daher so schnell wie möglich auf die Seite des Siegers schlagen. Deshalb ist dies Argument politisch so gut zu gebrauchen. Der einzige Einwand ist der, dass es eine Einsicht in die Absichten Gottes voraussetzt, die kein vernünftiger Mensch für sich beanspruchen kann, und dass es bei ihrer Durchführung eine rücksichtslose Grausamkeit rechtfertigt, die verwerflich wäre, wenn unser Programm rein irdischen Ursprungs wäre. Es ist gut, Gott auf unserer Seite zu wissen, aber einigermaßen verwirrend, den Feind vom Gegenteil genau so überzeugt zu finden. Wie es in den unsterblichen Versen eines

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