Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
sich dieser Gefahr aussetzen wollen, außer sie werden getragen von einer Theorie, denn nur Theorien machen Menschen ganz unvorsichtig.
Wenden wir uns nun vom moralischen dem rein geistigen Standpunkt zu, so müssen wir uns fragen, ob die Sozialwissenschaft zur Aufstellung von Kausalgesetzen beitragen kann, die die Staatsmänner in ihren politischen Entscheidungen unterstützen können. Einige wirklich bedeutsame Lösungen sind bekannt geworden, zum Beispiel, wie man Wirtschaftskrisen und Massenarbeitslosigkeit, die nach dem letzten Krieg die Welt heimsuchten, verhütet. Von denen, die sich die Mühe nahmen, die Frage zu studieren, wird heute auch allgemein anerkannt, dass nur eine Weltregierung einen Krieg verhüten und die Zivilisation bestenfalls noch einen weiteren großen Krieg überstehen kann. Aber obwohl man das weiß, wirkt sich dieses Wissen nicht aus; es ist noch nicht in die Massen gedrungen, und es ist nicht stark genug, dunkle Interessen in Schach zu halten. Ja, eigentlich besitzen wir schon viel mehr sozialwissenschaftliche Erkenntnis, als die Politiker sich zunutze machen wollen oder können. Manche schreiben dies Versagen der Demokratie zu, aber für mich tritt es in der Autokratie mehr als in jeder andern Regierungsform hervor. Der Glaube an die Demokratie kann jedoch, wie jeder andere Glaube, soweit getrieben werden, dass er fanatisch und daher schädlich wird. Ein Demokrat braucht nicht zu glauben, dass eine Mehrheit immer weise Entscheidungen treffen wird; woran er glauben muss, das ist die Notwendigkeit, dass der Mehrheitsentscheid, ob klug oder unklug, angenommen werden muss, bis die Mehrheit einen anderen Beschluss fasst. Und das glaubt er nicht aus irgendeiner mystischen Auffassung von der Weisheit des einfachen Mannes, sondern weil er es für den besten praktischen Weg hält, die Herrschaft des Gesetzes an Stelle willkürlicher Gewalt zu setzen. Auch glaubt der Demokrat nicht unbedingt, dass die Demokratie immer und überall das beste System ist. Es gibt viele Völker, denen die Selbstbeherrschung und politische Erfahrung mangelt, die zur erfolgreichen Arbeit parlamentarischer Einrichtungen nötig sind, und wo der Demokrat ihnen zwar die erforderliche politische Erziehung wünschen, aber doch einsehen wird, dass es nutzlos ist, ihnen vorzeitig ein System aufzudrängen, das fast mit Sicherheit zusammenbrechen muss. Man kann in der Politik, wie anderswo auch, nicht absolut handeln: was jetzt und hier gut ist, kann später und anderswo schlecht sein, und was dem politischen Empfinden eines Volkes Rechnung trägt, mag einem anderen vollkommen sinnlos scheinen. Das allgemeine Ziel des Demokraten ist es, eine Gewaltregierung durch eine Regierung zu ersetzen, die die Zustimmung des Volkes hat; das aber erfordert eine gewisse Erziehung auf Seiten der Bevölkerung. Nehmen wir an, ein Volk zerfiele in zwei fast gleiche Teile, die einander hassen und darauf brennen, einander an die Gurgel zu springen, so wird der zahlenmäßig kaum schwächere Teil sich der Gewaltherrschaft des anderen nicht ergeben fügen, noch wird die zahlenmäßig leicht überlegene Gruppe im Augenblick des Sieges jene Mäßigung an den Tag legen, die den Bruch heilen könnte.
Die Welt von heute braucht zweierlei: erstens Organisation politische Organisation zur Verhütung von Kriegen, wirtschaftliche Organisation zur Sicherung produktiver Arbeit, besonders in den vom Krieg zerstörten Ländern, erzieherische Organisation, um einen gesunden Internationalismus ins Leben zu rufen. Zweitens bedarf sie gewisser moralischer Eigenschaften jener, die seit Jahrhunderten von Sittenlehrern gefordert wurden, freilich bisher mit wenig Erfolg. Vor allem bedürfen wir der Nächstenliebe und der Toleranz, nicht irgendeines fanatischen Glaubens, den uns die verschiedenen um sich greifenden Ismen anpreisen. Diese beiden Ziele, das organisatorische und das ethische, stehen meines Erachtens in enger Wechselbeziehung; wäre eins von ihnen erreicht, so würde das andere bald folgen. Aber im Wesentlichen wird die Welt, soll sie auf dem richtigen Wege fortschreiten, dies auf beiden Gebieten zugleich tun müssen. Man wird die üblen Leidenschaften, die natürlichen Nachwirkungen des Krieges, allmählich eindämmen und jene Organisationen immer weiter ausbauen müssen, die der gegenseitigen Hilfeleistung dienen. Man wird mit dem Verstand und mit dem Herzen einsehen müssen, dass wir alle eine große Familie sind, und keiner von uns sein Glück auf dem
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