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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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Viktorianismus, Lenin die verkörperte marxistische Doktrin – keiner von beiden war ganz Mensch, aber beide waren Naturgewalten vergleichbar.
    Gladstone beherrschte im Privatleben seine Umwelt durch die Kraft seines Blickes, der rasch und durchdringend war und Schrecken einflößen konnte. Man fühlte sich beständig versucht, wie ein kleiner Junge unter den Augen eines altmodischen Schulmeisters, zu sagen: »Bitte, Herr Lehrer, ich war's nicht.« So erging es jedem. Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der es gewagt hätte, ihm eine auch nur im Leisesten »gewagte« Geschichte zu erzählen; sein sittlicher Abscheu hätte den Erzähler zu Stein erstarren lassen. Ich hatte eine Großmutter, und sie war die schrecklichste Frau, die ich je kannte; andere Berühmtheiten zitterten unweigerlich vor ihr. Aber als einmal Gladstone bei ihr zum Tee geladen war, ließ sie uns alle vorher wissen, sie wolle ihm seine Irlandpolitik austreiben, die sie entschieden missbilligte. Er kam, und ich saß die ganze Zeit dabei und wartete atemlos auf den bevorstehenden Zusammenstoß. Aber ach, meine Großmutter war die Sanftmut in Person und sagte kein Wörtlein, das den Löwen zum Brüllen gereizt hätte; niemand hätte gedacht, dass sie mit ihm in irgendeinem Punkt nicht übereinstimmte.
    Den weitaus größten Schreck meines Lebens flößte mir Gladstone ein. Als ich siebzehn Jahre alt war, ein sehr scheuer und linkischer Jüngling, kam er über das Wochenende zu uns. Ich war der einzige »Mann« im Hause, und als sich die Damen nach dem Abendessen zurückzogen, saß ich allein und verlassen dem Ungeheuer gegenüber. Ich war zu verängstigt, meine Hausherrenpflicht zu erfüllen, und er half mir auch nicht dabei. Lange saßen wir schweigend da; schließlich geruhte er, mit seiner dröhnenden Bassstimme die erste und letzte Bemerkung zu machen: »Man hat mir da sehr guten Portwein vorgesetzt, aber warum in einem Rotweinglas?« Seither bin ich rasenden Pöbelhaufen, zornigen Richtern und feindseligen Regierungen gegenübergestanden, aber ich habe nie mehr einen solchen Schreck empfunden wie in jenem peinlichen Augenblick.
    Der politische Einfluss Gladstones beruhte auf seiner tiefen moralischen Überzeugung. Er besaß die ganze Geschicklichkeit eines gewandten Politikers, war aber ehrlich überzeugt, dass jedes seiner Manöver von den edelsten Absichten getragen war. Labouchere, der ein Zyniker war, charakterisierte ihn treffend: »Wie jeder Politiker hat er immer eine versteckte Trumpfkarte bereit; aber im Gegensatz zu den anderen meint er, unser Herr habe sie ihm zugesteckt.« Unweigerlich befragte er ernsthaft sein Gewissen, und unweigerlich gab ihm sein Gewissen die gewünschte Antwort.
    Die Kraft seiner Persönlichkeit geht aus der Geschichte seines Wortwechsels mit einem Betrunkenen in einer Versammlung hervor, sei sie nun wahr oder erfunden. Der Betrunkene gehörte offenbar der Gegenpartei an und erging sich in häufigen Zwischenrufen. Schließlich fasste Gladstone ihn scharf ins Auge und ließ sich also vernehmen: »Darf ich den Herrn, der nicht einmal, sondern schon wiederholt meine Ausführungen durch Zwischenrufe unterbrochen hat, ersuchen, mir jene große Höflichkeit zu erweisen, die ich ihm, wäre ich an seiner Stelle und er an meiner, bereitwilligst erweisen würde.« Es heißt – und ich glaube es gern – dass der Schreck den Mann ernüchterte und er für den Rest des Abends schwieg.
    Seltsamerweise betrachteten ihn etwa die Hälfte seiner Landsleute, darunter eine große Anzahl Wohlhabender, als entweder verrückt oder bösartig oder beides zusammen. In meiner Kinderzeit kamen die meisten meiner kleinen Gespielen aus konservativen Familien, und sie versicherten mir stets feierlich als wohlbekannte Tatsache, dass Gladstone jeden Morgen bei verschiedenen Hutmachern zwanzig Zylinderhüte bestellte, und seine Frau dann die Runde machen und sie wieder abbestellen musste. (Damals gab es noch kein Telefon.) Die Protestanten verdächtigten ihn, insgeheim mit dem Vatikan im Bunde zu sein; die Reichen betrachteten ihn (mit wenigen Ausnahmen) so, wie die reaktionärsten reichen Amerikaner Roosevelt betrachteten. Aber er blieb gelassen und heiter, weil er keinen Augenblick zweifelte, dass der Herr auf seiner Seite war. Und für die Hälfte des Volkes war er fast ein Gott.
    Lenin, mit dem ich 1920 in Moskau eine lange Unterredung hatte, besaß, oberflächlich betrachtet, sehr wenig Ähnlichkeit mit Gladstone, und doch hatten die

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