Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
beiden Männer, wenn man vom Unterschied der Zeit, des Ortes und der Weltanschauung absieht, vieles gemeinsam. Um zunächst von den Unterschieden zu sprechen: Lenin war grausam, Gladstone nicht; Lenin hatte keine Achtung vor der Tradition, Gladstone sehr viel; Lenin waren alle Mittel recht, den Sieg seiner Partei herbeizuführen, während für Gladstone die Politik ein Spiel mit bestimmten Regeln war, die man einhalten musste. Alle diese Unterschiede sprechen meines Erachtens für Gladstone, und daher hatte Gladstones Politik im allgemeinen wohltätige, die Lenins katastrophale Folgen. Trotz dieser Unterschiede jedoch gibt es eine Reihe ebenso schlagender Ähnlichkeiten. Lenin hielt sich für einen Atheisten; darin täuschte er sich aber. Er glaubte, die Welt werde von der Dialektik beherrscht, und er sei ihr Werkzeug; genau so wie Gladstone sah er sich als das menschliche Werkzeug einer übermenschlichen Macht. Seine Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit betraf nur die Mittel, nicht den Zweck; er hätte seine persönliche Macht nicht um den Preis der Abtrünnigkeit erkaufen wollen. Beide schöpften ihre persönliche Kraft aus dieser unerschütterlichen Überzeugung von ihrer eigenen Redlichkeit. Beide wagten sich zur Unterstützung ihrer Weltanschauung auf Gebiete, auf denen sie sich durch ihre Unwissenheit nur lächerlich machen konnten – Gladstone an die Bibelkritik, Lenin an die Philosophie.
Als Persönlichkeit war meines Erachtens Gladstone der Unvergesslichere von beiden. Als Prüfstein dient mir hier der Eindruck, den man von jedem der beiden als zufällig Mitreisender in einem Zug empfangen hätte, ohne zu wissen, wen man vor sich hatte. Ich bin überzeugt, dass mir unter solchen Umständen Gladstone als einer der bemerkenswertesten Menschen, denen ich je begegnet bin, aufgefallen wäre und mich gar bald zu schweigender Ergebenheit in seine Ansichten gezwungen hätte. Lenin hingegen wäre mir wohl sofort als engstirniger Fanatiker und billiger Zyniker erschienen. Ich behaupte nicht, dass dies ein gerechtes Urteil gewesen wäre; es wäre ungerecht oder besser unvollständig gewesen. Als ich mit Lenin zusammentraf; machte er mir viel weniger den Eindruck eines großen Mannes, als ich erwartet hatte; die stärksten Eindrücke, die ich empfing, waren engstirniger Fanatismus und mongolische Grausamkeit. Als ich ihn über den Sozialismus in der Landwirtschaft befragte, führte er lachend aus, wie er die ärmeren Bauern gegen die reicheren aufgehetzt hatte, »und sie knüpften sie bald am nächsten Baum auf-ha! ha! ha!« Sein Lachen beim Gedanken an die Hingemordeten ließ mir das Blut gerinnen.
Die politischen Führereigenschaften lagen bei Lenin weniger klar zutage als bei Gladstone. Ich zweifle, ob Lenin in ruhigeren Zeiten ein Führer hätte werden können. Das Geheimnis seiner Macht war, dass er inmitten eines verwirrten und geschlagenen Volkes fast als einziger keine Zweifel hegte und trotz des militärischen Zusammenbruchs Hoffnung auf einen neuen, andersgearteten Sieg versprach. Diese Botschaft verkündete er anscheinend mit kühlem Verstand, der die Logik zum Bundesgenossen anrief. So erschien die Leidenschaft seiner Anhänger allmählich ihnen wie Lenin selbst als wissenschaftlich untermauert und als der einzige Weg zum Heil der Welt. Robespierre muss ähnliche Eigenschaften besessen haben.
Ich habe von Menschen gesprochen, die auf diesem oder jenem Gebiet berühmt waren. Eigentlich aber bin ich ebenso oft von Männern wie Frauen tief beeindruckt gewesen, die in keiner Weise berühmt waren. Das Unvergesslichste ist mir eine bestimmte sittliche Eigenschaft, eine gewisse Selbstlosigkeit, sei es nun im Privatleben, in öffentlichen Angelegenheiten oder im Streben nach der Wahrheit. Ich hatte einmal einen Gärtner, der weder lesen noch schreiben konnte, aber ein vollkommenes Beispiel einfacher Güte war, so wie Tolstoi sie unter seinen Bauern so gerne beschreibt. Ein Mann, den ich wegen seiner Herzensreinheit nie vergessen werde, war E. D. Morel. Er erfuhr als Beamter einer Liverpooler Reederei von den Gräueln bei der Ausbeutung des Kongogebiets durch König Leopold. Um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Zustände zu lenken, musste er seine Stellung und seinen Lebensunterhalt opfern. Zunächst auf sich allein gestellt, gewann er allmählich trotz der Oppostion aller europäischen Regierungen das Ohr der Öffentlichkeit und setzte eine Reform durch. Den neuen Ruhm, den er so erworben
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