Unscheinbar
dich streiten! Und die Mädels dort drüben brauchen einen Sabberlatz“, versuchte sich Emma glucksend zu verteidigen.
„Ich kann nichts hören! Du sprichst so undeutlich. Nimm doch mal meinen Ärmel aus dem Mund, dann versteh ich dich vielleicht.“
Er liess sie so abrupt los, dass sie etwas aus dem Gleichgewicht geriet.
„Du kannst ja nicht einmal laufen, du armes Stadtküken!“
Emma konnte diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen. Sie trat neben ihn. Sie brauchte nur einen Augenblick, in dem er unaufmerksam war. Und den bekam sie. Emma holte mit ihrer Hüfte aus und schubste ihn beiseite, als würde sie eine Tür schliessen.
Ben kam prompt ins Straucheln.
„Wer kann hier nicht laufen, Landei?“
Er fing sich schnell wieder. Ebenso schnell versuchte er Emma zu erwischen.
Der eigentliche Plan etwas zu essen, war vergessen.
Sie rannte lachend davon, hatte aber keine Chance.
Sie schaffte es bis zu einer kleinen Brücke. Und dort, wo der Fels endete und der Abgrund sich auftat, holte er sie ein.
Sie hielt sich schwer atmend am Brückengeländer fest, während er von hinten die Arme um sie schlang. Ganz nah an ihrem Ohr flüsterte er: „Erwischt.“ Dann liess er sie wieder los und stellte sich neben sie.
„Du schuldest mir was.“
Emma sah in die Ferne. Blinzelte der Sonne entgegen. „Wie bitte?“
„Du schuldest mir was. Obwohl es mit der Ablenkung jetzt wieder vorbei ist, da ich dich an den Morgen zurückerinnere, habe ich dich auf andere Gedanken gebracht. Gemäss deiner Aussage, habe ich jetzt etwas gut bei dir.“
Emma biss sich auf die Unterlippe. „Stimmt.“
Sie wusste selbst nicht, wie ihr geschah. Sie liess sich einfach leiten und gab dem Impuls nach.
Es war nicht, was sie sagte. Sondern wie. Dazu kam ihr Blick. Sie kehrte der Natur den Rücken und fixierte Ben. Sein Gesicht. Seine Augen.
Auf einmal lag eine Spannung in der Luft, die greifbar schien.
Ben richtete sich ein wenig auf. Er liess Emma nicht aus den Augen. Sie trat näher an ihn heran.
Sein Arm liess ganz von alleine das Geländer los. Lieferte den Körper schutzlos aus.
Das war das Signal. Die Aufforderung.
Wie selbstverständlich man diese kleinen Gesten auf einmal verstand.
Emma dachte nicht nach. Irgendwo in ihrem Innern war sie erstaunt, wie leicht es war, nicht zu denken. Sich einfach dem Augenblick hinzugeben.
Sie überwand auch die letzte Distanz. Legte den Kopf in den Nacken. Schloss die Augen.
Die Berührung war so leicht und doch so intensiv. Ihre Sinne versuchten alles wahr zu nehmen. Weiche Lippen. Warmer Atem. Raue Haut. Herber Geruch. Sie küsste ihn auf sanfte, fast unschuldige Weise. Dann löste sie sich wieder. Forschend sah sie ihm ins Gesicht. Seine Augen waren dunkler als zuvor. Oder war es das Licht?
Die Antwort blieb aus.
Er war nicht bereit, das als Bezahlung ihrer Schuld anzuerkennen. Höchstens als Anzahlung.
Nun holte er sich den Rest.
Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. Nicht minder sanft senkte er seinen Mund auf ihren.
Sofort entzündete sich in ihr eine Flamme.
Das war ganz und gar nicht die Idee gewesen. Zumindest nicht, wenn es nach ihr gegangen wäre.
Ihre Lippen öffneten sich bereitwillig.
Eigentlich müsste sie das unterbinden.
Es war nicht richtig.
Er konnte mit seiner Zunge verdammt gut umgehen.
Unterbinden. Wie sollte sie? Und warum sollte sie? Konnte etwas, das so gut war, falsch sein? Nein. Keinesfalls.
Sie wurde von Reizen überflutet. Alles nahm sie viel intensiver wahr. Die Berührung seiner Hand in ihrem Gesicht. Im Nacken. Im Haar.
Und da war es wieder. Diesmal stärker. Die Lippen, der Atem, der Geruch.
Die Festigkeit des Arms, der sich um ihren Rücken schlang. Der ihr Halt gab. Der sich anbot, sich fallen zu lassen. Sicherheit gab.
Ein süsser Augenblick. Ein Kuss, der alles versprach.
Bis er endete.
Die Gedanken kehrten zurück. Mit ihnen die Unsicherheit. Die Fragen. Die Zweifel. Natürlich, es war nur ein Kuss gewesen. Aber was war das zwischen ihnen? Was wurde, wenn dieser Terror ein Ende nahm?
Jeder ging seiner Wege. Das würde werden. Denn sie kannten sich ausserhalb dieser Ausnahmesituation nicht. Zurück im normalen Leben, im Alltag wäre das Ganze wohl kaum mehr so prickelnd.
Musste man es überhaupt definieren?
Nein.
„Ich nehm’s zurück.“
Er hielt sie immer noch fest und sah sie eindringlich an. „Was? Das Einlösen der Schulden? Wenn du mir unbedingt noch einmal etwas geben möchtest, halte ich dich nicht
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