Unscheinbar
aus man einen herrlichen Blick auf den Wasserfall hatte. Er zerrte sie bis zum Ende der Plattform, an die Sicherheitsabsperrung heran. „Und? Siehst du ihn?“
„Sieht etwas seltsam aus, aus dieser Perspektive.“
„Echt? Wie sieht’s denn aus da unten? Wässrig? Dann komm mal hoch.“
Sie war verstrubelt, ihr war heiss und die Position war ungemütlich. Aber sie hatte Spass, wie schon lange nicht mehr.
Zumindest noch.
Endlich wieder frei pustete sie grinsend ihr Haar aus dem Gesicht. „Dieses Ungetüm ist tatsächlich beeindruckend.“
„Sag ich doch. In dieser Jahreszeit ist es fast am besten. Denn jetzt sorgt das Schmelzwasser für reichlich mehr Menge. Aber was erzähl ich dir von Schmelzwasser in Wasserfällen.“
„Sehr witzig.“ Sie bedachte ihn mit einem bösen Blick. Oder eher das, was einem bösen Blick am nächsten kam. „Und was hat das ganze nun mit Sherlock zu tun?“
„Noch nie was vom berühmten Reichenbachfall gehört? Arthur Conan Doyle hat seinen Helden hier abstürzen lassen.“
„Ach nein. Abstürzen lassen? Und nach alledem, was ich gestern erlebt habe, schleppst du mich ausgerechnet hierher?“ Diesmal sah sie ihn tadelnd an. Das Schmunzeln konnte sie aber nicht ganz unterdrücken.
Da erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit.
Unweit hinter Ben ging ein Tourist vorüber.
Der Blick an Ben vorbei war mehr ein Zufall gewesen und dauerte nicht länger, als den Bruchteil einer Sekunde, aber es reichte aus.
Ihr Lächeln erstarb.
Hektisch suchte sie mit den Augen die Menge ab.
Ben bemerkte die Veränderung. Er setzte zu einer Entschuldigung an, musste aber feststellen, dass Emma ihm überhaupt nicht zuhörte.
Es war also nichts, was er gesagt hatte. Was war es dann?
Er folgte ihrem Blick, der nervös über die Menschen wanderte, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.
Auf einmal endete ihre Suche. Sie legte die Stirn in Falten und kniff ihre Augen zusammen.
Sie schien etwas zu fixieren.
Oder jemanden?
Ben suchte die Menge in ihrem Blickfeld ab, erkannte aber niemanden.
„Das ist doch nicht möglich…“, flüsterte sie mehr zu sich selbst.
„Emma? Was ist los?“
Sie hörte nicht hin. Stattdessen schob sie Ben beiseite. Gehetzt drückte sie sich durch die Menschen.
„Was zum…“ Ben nahm die Verfolgung auf. Doch auf einmal sah er sich eingekesselt zwischen einer Schulklasse. Kinder und Rucksäcke versperrten ihm den Weg. An ein Durchkommen war für den Augenblick nicht mehr zu denken. Er konnte nur noch zusehen, wie eine Person in einer grauen Jacke und einer tief im Gesicht sitzenden schwarzen Mütze hinter einem Fels verschwand. Kurz darauf folgte Emma. Und verschwand ebenfalls.
Strang 1 / Kapitel 32
„Entschuldigen Sie bitte?“ Emma folgte dem Mann, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wo er hinging.
Er reagierte nicht.
„Hallo? Sie in der grauen Jacke, könnten Sie bitte kurz stehen bleiben?“ Emma hatte nur Augen für den Mann. Doch er schien sie überhaupt nicht zu beachten.
In zügigen Schritten bahnte er sich einen Weg durch die Menschen. Bei der nächsten Gelegenheit bog er rechts ab und verschwand aus Emmas Sichtfeld.
Sie beeilte sich, ihm zu folgen. An derselben Stelle ging sie um den Felsen herum. Sie fand sich auf einem übersichtlichen Weg wieder. Doch der Mann war weg.
Entmutigt liess Emma die Schultern hängen. Sie wollte schon umkehren. Da entdeckte sie ihn weit hinten. Er folgte einem schmalen Pfad, der sich durch den Wald schlängelte. Auf der einen Seite erreichte das Gestein schwindelerregende Höhe. Auf der anderen Seite fiel das Gelände steil ab. Immer wieder verschwand der Mann hinter einem Baum oder einem Fels, um dann in einer Biegung wieder aufzutauchen.
Sofort heftete sich Emma erneut an seine Fersen. Sie rannte den breiten Weg entlang. Kurz vor dem schmalen Pfad bremste sie ab. Sie verschaffte sich einen kurzen Überblick.
Die Stimmen der anderen Menschen waren noch zu hören. An den mächtigen Baumstämmen erkannte sie gelbe Markierungen.
Ein offizieller Wanderweg.
Gut.
Emma tastete sich weiter vorwärts. Sie hatte reichlich Mühe ihn einzuholen, aber allmählich kam sie ihm näher.
Dass die Stimmen der anderen Leute sich immer weiter entfernten, fiel ihr nicht mehr auf. Nach einer Weile verstummten sie ganz. Nur noch das Rauschen der Bäume bei einem Windstoss, das Rascheln im Unterholz und das Zwitschern der Vögel waren zu hören.
„Bitte entschuldigen Sie, ich würde Sie gerne etwas
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