Unscheinbar
Beerdigungszeremonie hatte der Niederschlag eingesetzt. Unaufhörlich rauschte er auf die noch aufgewühlte Erde von Gregors Grab nieder.
Ein schlimmes Gewitter stand an.
Das schien aber niemanden zu interessieren.
Da tat sich endlich etwas. Martin stand auf. Er ging zum Schrank, nahm einen Krug hervor und verliess das Haus durch die Küchentür.
Als er zurückkam, hielt er den mit Brunnenwasser gefüllten Krug in den Händen und ein Kännchen Milch. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, trat er an die Arbeitsplatte und machte sich ans Werk.
Sie mussten schlafen. Aber sie würden den Schlaf nicht finden. Keiner von ihnen. Er musste etwas tun. Sonst gewann die Erschöpfung die Oberhand. Und so entsetzlich alles war, der Hof wartete nicht. Er nahm keine Rücksicht auf seine trauernden Bewohner. Im Gegenteil. Vernachlässigung führte nur zu neuen Problemen.
Zuerst füllte Martin eine grosse Tasse mit aufgewärmter Milch. Damit ging er zu Rosa und vor ihr in die Hocke. Er suchte ihre Aufmerksamkeit. Aus gläsernen Augen sah sie ihn an. Martin drückte ihr die Tasse in die Hände. „Trink.“
Das war alles. Dann stand er wieder auf und ging, gefolgt von Rosas Blick, an die Arbeitsplatte zurück. Dort bereitete er drei weitere Getränke zu.
Den Tee brachte er seiner Mutter. Antonius stellte er ebenfalls eine Milch hin und seinem Vater setzte er einen Kirsch vor die Nase. Dann nahm Martin seinen Platz bei seiner Mutter wieder ein. Die Flasche Kirsch stellte er neben sich ab.
„Nnnimmst du nichts?“, kam die Frage von Antonius, der Martins Handeln interessiert verfolgt hatte.
Martin schüttelte den Kopf. „Nein. Trinkt. Es wird euch gut tun.“ An seinen Vater gewandt fügte er hinzu: „Und dir vielleicht ein bisschen wohltuende Wärme schenken.“
Erwin nahm seinen Kirsch und leerte ihn in einem Zug. Sofort schenkte Martin nach.
Drei. Mehr würde er ihm nicht geben. Sonst ging der Schuss nach hinten los. Und einen Alkoholiker hatten sie schon beerdigt. Das brauchten sie kein zweites Mal.
Ruth rührte den Tee nicht an. Sie hielt ihn fest und starrte auf den Henkel. Aber sie sah ihn nicht. Ihr Blick ging ins Leere.
Martin schupste sie vorsichtig an. „Mutter, du musst trinken. Und morgen wirst du etwas Frühstücken. Bitte. Du brauchst die Kraft. Du darfst um deinen Sohn trauern, wir trauern auch um unseren Bruder. Aber vergiss nicht, wir haben alle eine grosse Verantwortung. Jetzt, da wir nicht mehr so viele sind, mehr denn je. Du warst doch immer die hoffnungsfrohste unter uns. Wenn alles schief ging, konnte man sich wenigstens immer auf dich verlassen. Gib das nicht auf. Gib dich nicht auf. Wir brauchen dich hier. Was sollten wir denn auch tun, ohne deinen Optimismus und Einfallsreichtum?“
Jetzt schon eine solche Rede zu schwingen, kam Martin verfrüht vor. Doch wenn Ruth wirklich in der Trauer versank, wurde es nur umso schwerer sie zurückzuholen. Also warum nicht gleich daran erinnern, dass noch ein Leben auf sie wartete?
Allerdings war sich Martin nicht sicher, ob er zu ihr durchgedrungen war. Zumindest hatte er aber Rosas Aufmerksamkeit gewonnen. Obwohl sie nicht angesprochen war, schien die Nachricht bei ihr angekommen zu sein.
Aufgeben galt nicht. Stimmt.
Vorsichtig trank sie einen Schluck.
Da reagierte auch Ruth. Sie drehte den Kopf langsam zu Martin. Als käme sie aus einer anderen Welt zurück, sah sie zuerst durch ihn hindurch, dann direkt in seine Augen.
Martin lächelte erleichtert. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Ruths Mundwinkel zuckten.
Ein Lächeln?
Er wusste es nicht. Aber das spielte keine Rolle. Denn als nächstes führte sie die Tasse zum Mund. Sie trank ihren Tee. Sehr gut.
Antonius beobachtete das Szenario.
Sein Bruder war gut. Während er selbst nur Schweigen und Ignoranz geerntet hatte, hatte Martin alle reanimiert. Mit ein paar wenigen Worten.
„Aach komm. Ddie werden schon wieder.“
Martin presste abwehrend die Lippen aufeinander. „Antonius, geh doch mit Rosa bitte schon nach oben und leg dich hin. Ja?“
Für andere hätte das geklungen, als wollte Martin Antonius loswerden. Ihn abwimmeln.
Aber Antonius lächelte nur. Er schob sich von der Bank und trottete zu Rosa. Sie liess sich aufhelfen. Als sie die Tasse beiseite stellen wollte, schaltete sich Martin ein. „Nein. Nimm sie mit. Trink sie leer. Du wirst danach schlafen wie ein Baby.“
Das entging Ruth nicht. Mit einem Ruck riss sie den Kopf hoch.
„Martin?“
Das erste Wort seit ihrem
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