Unschuldig
einander, dann Paula mit schreckgeweiteten Augen an.
»Wiederholen Sie bitte noch einmal, was Sie gerade gesagt haben! «, stieß der Vater schließlich mit heiserer Stimme hervor.
Paula schilderte mit bemüht ruhiger Stimme, wie man die junge Frau aufgefunden hatte und was sie bisher wussten.
Danach war es totenstill im Raum. Nur das leichte Zischen der Teekanne war zu hören.
Schließlich schaute Heinrich Borowski Paula prüfend an. Sie fühlte sich, als sei sie eine Bewerberin, über deren berufliches Fortkommen er zu entscheiden hätte.
»Was erwarten Sie von uns? Wie können wir helfen?« Sein Tonfall war wieder erstaunlich sachlich.
Auch das Auftreten seiner Tochter Julia war souverän, ihre Fragen und Antworten kamen überlegt und ruhig. Wie ihr Vater schien sie unerwartet beherrscht, was Paula irritierte. Es war schließlich ihre Schwester, die so grausam ums Leben gekommen war. »Meine Schwester und ich standen uns nicht besonders nahe«, sagte Julia Borowski, als hätte sie Paulas Gedanken gelesen. Ihre Stimme war angenehm tief. »Das dürfen Sie auch gleich wissen. Mir ist klar, dass Sie mich befragen müssen, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass ich nichts, aber auch rein gar nichts zu Ihren Ermittlungen beitragen kann. Nicht das Geringste.«
Wäre ja auch zu schön gewesen, dachte Paula. Sie selbst hatte zu ihrer Schwester Sandra, bis auf eine kurze Phase, immer eine enge Beziehung gehabt. Egal, in welchen Städten sie lebten, egal, welche Freunde sie hatten. Selbst wenn die Schwestern sich manchmal monatelang nicht gesehen oder wochenlang nicht miteinander telefoniert hatten, konnten sie jederzeit das Gespräch wieder aufnehmen, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie miteinander gesprochen und gelacht hatten.
»Könnten Sie das vielleicht ein wenig präzisieren?«
»Ich bin sieben Jahre älter als meine Schwester. Das ist einfach ein zu großer Abstand, als dass man als Kinder viel voneinander haben könnte. Als ich jünger war, habe ich geglaubt, dass wir uns besser verstehen würden, wenn wir erwachsen wären. Aber das war ein Irrtum, denn Claudia ist nie erwachsen geworden.«
Paula hob fragend eine Augenbraue.
»Nein, sie ist nie erwachsen geworden«, wiederholte Julia. »Alles ist für sie eine Art Spiel. Menschen sind für sie austauschbar. Nur für Tiere hatte sie immer schon ein Herz, weil sie sich mit ihnen besser verstand als mit Menschen.«
»So kann man das nicht sagen, Julia«, widersprach Heinrich Borowski.
»Doch, Vater. Genau so muss man das sagen. Soweit ich weiß, ist ihr Job im Zoo das Längste, was sie überhaupt je gemacht hat. Ansonsten hat sie ihre sozialen Kontakte wie die Unterwäsche gewechselt. Niemand, Vater, wirklich niemand war ihr tatsächlich wichtig.«
Paula dachte wieder an Sandra und wie traurig es sie selbst gemacht hatte, als ihre schwangere Schwester von ihrem Geliebten Frank erfuhr, dass der bereits verheiratet und Familienvater war.
»Ich verstehe«, sagte sie knapp und wartete. Sie hatte registriert, dass Julia ihren Vater sehr distanziert mit »Vater« und nicht mit »Papa« ansprach. Aber es passte irgendwie ins Bild.
»Sie blieb immer irgendwie eisgekühlt. Niemand kam wirklich an sie heran. Ich habe schon vor vielen Jahren die Hoffnung aufgegeben. «
»Wie oft hatten Sie Kontakt zu ihr?«
»Selten. Hin und wieder haben wir uns zu Weihnachten bei Vater gesehen.«
»Wann haben Sie sie das letzte Mal getroffen oder gesprochen? «
Julia überlegte. »Ende Januar, aber nur durch Zufall. In Mitte. Wir sind uns auf der Straße begegnet. Auf dem glatten Bürgersteig sind wir vorsichtig aufeinander zu geschlittert. Rosenthaler Platz. Wir haben ein bisschen Small Talk über den kalten Winter gemacht, das war’s dann aber auch schon.«
»Hatte sie einen festen Freund?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls erzählte sie nie etwas davon. Sie war nicht der Typ für eine feste Partnerschaft.«
»Wissen Sie, ob sie wechselnde Sexualpartner hatte?«
»Ich kann da nur vermuten.«
»Und was vermuten Sie?«
»Wenn sie schon keinen Freund hatte, gab es vielleicht immer mal wieder einen One-Night-Stand.«
»Haben Sie irgendeine Idee, wer Ihre Schwester getötet haben könnte?«
»Nicht die geringste.«
»Oder warum?«
»Sie meinen, warum es jemand getan haben könnte?«
»Ja.«
»Keine Ahnung. Ich meine, sie hatte ja keine wirklichen Freundinnen oder Freunde. Aber dann hat man auch nicht wirklich Feinde, oder? Und selbst wenn, mit mir hätte sie
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