Unschuldig
»Aber das erfahren wir wahrscheinlich nie.«
»Doch, das tun wir«, sagte Paula.
»Wie denn?«
»Ich frage den Täter danach. Und er wird’s mir sagen.«
Der Direktor sah sie einen Moment lang zweifelnd an. Er war sich nicht sicher, ob Paula sich über ihn lustig machte. »Vielleicht wollte sie ihm ihre Tiere zeigen. Sie hat immer großes Engagement gezeigt, wenn es um die Großkatzen ging.«
Und doch hat sie unter all den Raubtieren das gefährlichste nicht erkannt, dachte Paula.
Bereits eine halbe Stunde später waren mehr als zehn Leute am Tatort beschäftigt. Dr. Weber, die Jungs von der Spurensicherung und das Team trafen fast gleichzeitig ein. Paula verteilte die Aufgaben und achtete darauf, für ihren eifrigen Vertreter Herbert Justus noch genügend Raum zu lassen. Das war nicht uneigennützig, denn es gab ihr die Möglichkeit, ihm den Tatort möglichst bald zu überlassen und die Aufgaben im Büro zu koordinieren. Sie wies Herbert darauf hin, dass es ihr besonders um mögliche Mehlwürmer, Restspuren von K.-o.-Tropfen und Werkzeuge ging, mit denen der Täter die Augen des Opfers entfernt haben könnte. Dr. Weber gab den Todeszeitpunkt mit »zirka drei Uhr morgens« an, und Fotograf Scholli nahm den Tatort auf Video auf. Paula würde ihre Vorgesetzten rasch informieren und sich mit ihnen abstimmen müssen, welches Detail wann der Presse mitgeteilt werden sollte. Außerdem musste sie den nächsten Angehörigen der Ermordeten bald die Todesnachricht überbringen. Laut Personalakte hatte Claudia Borowski noch einen Vater, der in einem Altenheim in Friedenau lebte, und eine sieben Jahre ältere Schwester, die ebenfalls in Berlin wohnte. Die Mutter war vor zehn Jahren verstorben.
Als immer mehr Beamte in weißen Schutzanzügen auftauchten, wurden die Tiere unruhig. Die Tiger begannen so laut zu brüllen, dass Paula das Raubtierhaus verlassen musste, um in Ruhe die wichtigsten Telefonate erledigen zu können.
29
D er aufwendig renovierte Jahrhundertwendebau mit den sahneweißen Ziegeln, den grünen Türen und einem großen gepflegten Garten auf der Rückseite sah eher wie eine noble Seniorenresidenz aus, nicht wie ein städtisches Altenheim. Die Besuchszeit ging von morgens zehn bis abends acht, aber nach dem fast leeren Parkplatz zu urteilen, schienen die Bewohner nicht allzu viel Besuch zu bekommen. Die Eingangshalle war großzügig und elegant mit einer modernen Sitzgruppe eingerichtet. Teure bunte Seidenblumen standen in einer Kristallvase auf einem Tisch im Wartebereich, und ein Wasserspender gluckerte, als Paula und Marius ihren Besuch bei der Dame am Empfang anmeldeten. Sie hatten auch die Schwester der Ermordeten, Julia Borowski, ins Altenheim bestellt.
Wie vielen Angehörigen würden sie wohl noch die Botschaft vom gewaltsamen Tod ihrer Lieben überbringen müssen, bis sie den Täter endlich gefasst hatten?, dachte Paula mit einem düsteren Gefühl.
Bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung war Heinrich Borowski als höherer Beamter in der Verwaltung im Verteidigungsministerium tätig gewesen. Nun wartete er im Besucherraum mit Paula und Marius im Rollstuhl auf das Eintreffen seiner ältesten Tochter. Aufgrund seiner schweren Zuckerkrankheit war ihm ein Bein amputiert worden. Julia Borowski traf mit leichter Verspätung ein, eine attraktive dunkelhaarige Frau Ende dreißig. Sie hatte ein klassisch geschnittenes Gesicht mit milchweißer Haut und grünen Katzenaugen. Noch nie hatte Paula so grüne Augen gesehen. Sie wirkten wie elektrisch aufgeladen, durchdringend und hell. Die Frau war ganz in einem strengen Businessstil gekleidet, was in dieser Umgebung leicht deplatziert wirkte. Außer einer kleinen schwarzen Handtasche trug sie nichts bei sich.
Auf dem Tisch luden zwei Kannen mit Kaffee und Tee und dazu passenden gelben Tassen ein, sich zu bedienen. Eine Schale mit frischem Obst und in Goldpapier eingewickelten Pralinen stand ebenfalls auf der bestickten Decke.
Heinrich Borowski bot den Besuchern davon an: »Nehmen Sie, nehmen Sie! Auch von den Pralinen, die kommen vom Kranzler und sind sehr gut!«
Paula räusperte sich. Die traurige Begegnung mit Frau Kleist, der Mutter des zweiten Opfers, steckte ihr noch in den Knochen, aber sie musste ohne lange Umschweife zur Sache kommen: »Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Claudia Borowski heute Morgen tot aufgefunden wurde.«
Einen Augenblick lang wirkte die Szene wie erstarrt. Heinrich und Julia Borowski blickten erst
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