Unschuldig
einem normalen Serienmörder zu tun haben, wenn man das überhaupt so ausdrücken kann. Das hier ist etwas anderes. Was ich fürchte, ist, wie gesagt, dass er bedeutend schlauer ist, als wir es gewohnt sind. Er arbeitet allein, er weiß, was er tut.«
»Wie sicher sind Sie hinsichtlich Ihres Täterbildes?«, fragte Paula.
Bleibtreu überlegte. »Neunzig zu zehn«, sagte er schließlich und schraubte an seinem Kugelschreiber.
Paula drängte, denn die Zeit bis zur großen Pressekonferenz wurde knapp: »Ich denke, der Täter wohnt in Berlin, er fühlt sich hier zu Hause, er kennt sich aus in der Stadt. Er hat sich bemüht, möglichst viel über die Opfer herauszufinden. Vielleicht hat er sie eine Weile beobachtet und ihre Gewohnheiten studiert. Er ist Single, lebt allein oder mit einem Elternteil zusammen. Er braucht die Freiheit, zu kommen und zu gehen, ohne sich vor einer Ehefrau oder Partnerin rechtfertigen zu müssen. Vielleicht war er bei Dreharbeiten involviert oder trägt einen Hass auf Filmleute mit sich herum. Das könnte aus einer gescheiterten Beziehung oder einem Job herrühren. Unser Mann achtet darauf, keine Spuren zu hinterlassen. Die wenigen Spuren, die wir haben, passen nirgendwo hin. Bislang wurde er nicht straffällig, er ist in keiner unserer Datenbanken gespeichert. Er lebt unauffällig, aber die Opfer waren gezielt ausgewählt. Die Frage, die wir beantworten müssen, lautet: Warum und wie? Kannten sie sich? Vielleicht ein Exfreund oder verschmähter Liebhaber? Was könnte sein Motiv sein? Eifersucht? Rache? Vielleicht ist er auch darauf aus, die Polizei in ein Katz-und-Maus-Spiel zu verwickeln. Sicher liest er Zeitung und hört Radio, sieht fern. Vielleicht will er Respekt oder Vergeltung.«
31
E r hatte sich eine Pizza aufgewärmt, Apfelsaft eingegossen und den Fernseher eingeschaltet. Essen war für ihn im Laufe der Jahre zu einer äußerst intimen Angelegenheit geworden. Am liebsten war er dabei allein und unbeobachtet. Natürlich konnte er es nicht verhindern, ab und zu auch im Beisein anderer etwas zu sich zu nehmen. Es schmeckte ihm aber nur, wenn er mit ihnen sehr vertraut war und sie sich nicht daran störten, dass er kein Wort sprach. Er wollte dabei nicht reden. Am schlimmsten waren unerwartete Fragen, während er gerade aß. Oder solche, bei denen er zuerst einmal überlegen musste, wie er am klügsten antwortete. Seine ganze Konzentration richtete sich auf seine Empfindungen im Mund. Wie die Zähne die Stücke zerkleinerten und der Speichel alles zu Brei verarbeitete. Wie die Zunge das Essen bewegte und die Geschmacksnerven ihre Arbeit verrichteten. Wenn er schluckte, wollte er genau spüren, wie das Essen im Rachen noch einmal kurz verharrte, während der Geschmack langsam verblasste.
Er stellte das Tablett mit der nur halb aufgegessenen Pizza beiseite. In der Glotze lief Werbung, als er auf das alte Sofa wechselte. Er zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum, damit endlich das Zittern aufhörte, das seinen Körper erschütterte. Aber die Schluchzer konnte er nicht aufhalten, die tief aus seiner Brust aufstiegen. Er weinte um sich und um den Schmerz, den er erlitten hatte, er weinte in Trauer um Fabian. Und dann weinte er um die anderen, die den Preis zahlen mussten, weil sie sein Leben ruiniert hatten.
Er hatte seine Erinnerungen in einen Traum verwandelt, der nie verblasste. Ein Albtraum, der sich drei- oder viermal im Monat wiederholte und in dem jedes Detail unverrückbar an seinem Platz blieb. Das brennende Boot in der Dämmerung. Die lodernden Flammen! Sein Sprung in den See und seine verzweifelten Schwimmbewegungen auf das Boot zu träumte er nicht, die konnte er nur erinnern. Ebenso wie das, was danach kam. Erst eine schallende Ohrfeige beendete seine Ohnmacht. Da lag er in nassen Klamotten am Ufer.
In jener Nacht wurde Fabians toter Körper aus den Laken gewickelt.
Der Fernseher lief noch immer. Er zappte sich durch die Sender, fand aber nichts, was ihn auch nur annähernd interessierte. Bei den Berliner Lokalnachrichten blieb er schließlich hängen. Eine Blondine las die Neuigkeiten des Tages vor, den Blick leicht nach rechts gewendet, als sie an einen Reporter weitergab. Der redete mit bedeutungsvoller Miene in eine Kamera und berichtete von der Pressekonferenz, zu der umgeschaltet wurde. Die Kommissarin hatte den Vorsitz. Die meisten Fragen wurden knapp und mit ernster Miene von ihr beantwortet. Er drehte den Ton lauter. »Einige Besucher der Paris
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