Unschuldig
nachdenken.
34
A m Abend war Paula allein mit Manuel in der Wohnung. Sie hatte einen anstrengenden Bürotag mit Unmengen von Papierkram und Auswertungen von weiteren Befragungen aus dem Umfeld der Opfer hinter sich, nur unterbrochen von zwei Besprechungen im Team.
Jonas war noch im Krankenhaus, und Sandra war mit einer Freundin ins Berliner Ensemble gegangen, um sich dort die »Dreigroschenoper« in einer viel gerühmten Inszenierung anzusehen. Paula saß mit Manuel im Wohnzimmer und beantwortete Mails. Manuel riss von dem gelben quadratischen Zettelblock viele kleine Papiere ab und faltete daraus Flugzeuge, die er nebeneinander in einer Reihe auf den Esstisch legte. Dann wiederholte er das Ganze mit dem blauen Zettelblock, bis er schließlich über zwanzig gelbe und blaue kleine Flieger gebastelt hatte. Plötzlich rief er »Attacke« und fing an, die Flugzeuge quer durchs Wohnzimmer zu schießen. Als ein Papierflugzeug Paula an der Stirn traf, starrte er sie einen Moment lang erschrocken an und brach dann in ein schrilles Gelächter aus.
Paula klappte ihren Laptop zu und revanchierte sich, indem sie einen Flieger in seine Richtung schickte. Postwendend kam der kleine Flieger zu ihr zurück. Nachdem sie sich eine Weile mit den Papierflugzeugen kreischend durchs Wohnzimmer gejagt hatten, befahl Paula leicht außer Atem: »Los, Zähne putzen, Kleiner. Du müsstest längst im Bett sein.«
»Ich bin doch schon groß. Und wo ist Jonas?«, maulte er. »Er soll mir Jim Knopf vorlesen.«
»Jonas ist im Krankenhaus. Und deine Mama im Theater. Sie wird schimpfen, wenn sie nach Hause kommt und du noch wach bist.«
»Erwachsene sind blöd«, beschwerte sich der Kleine. »Außer Jonas. Der ist cool.«
Manuel war ganz vernarrt in Jonas. Wenn Sandra oder Paula ihm sagten, »ins Bett jetzt«, überhörte er die Aufforderung grundsätzlich, aber wenn Jonas es sagte, gehorchte er sofort. Er war wie ein kleiner Doppelgänger von Jonas und folgte ihm auf Schritt und Tritt, kaum dass er aus der Klinik zu Hause war. Die beiden konnten stundenlang gemeinsam mit Spiel und Spaß verbringen, ohne dass Sandra oder Paula einspringen mussten. Der Vater fehlt ihm, dachte Paula und überlegte, ob es im Alltag wohl schwieriger war, als alleinerziehende Mutter alle Entscheidungen alleine treffen zu müssen oder sich immer mit dem Vater abzustimmen.
Nach dem Zähneputzen brachte sie Manuel ins Bett. Sie wickelte ihn in die Decke und strich ihm übers Haar. Mit einem kleinen Seufzer drehte er sich auf die Seite und schloss die Augen. Bevor sie sich mit ihm einigen konnte, was sie ihm vorlesen sollte, war er schon eingeschlafen. Leise schlich sie aus dem Zimmer und schloss die Tür.
In der Nacht wurde sie von Geräuschen in der Wohnung geweckt, die sie nicht gleich zuordnen konnte. Wahrscheinlich Sandra, die ins Bad geht, dachte sie und kuschelte sich tiefer in die Kissen, um weiterzuschlafen. Doch nach kurzer Zeit hörte sie Sandras Schritte immer noch im Flur. Sie stand auf, ging in die Diele und auf die Galerie und sah, dass ihre Schwester vor dem Sofa stand, auf dem Manuel schlief. Ihre Augen waren offen, und sie hob den Finger, um etwas Unsichtbares in der Luft zu berühren. Als Paula zu ihr trat und sie anblickte, wusste sie, dass ihre Schwester nicht wach war. Sie erinnerte sich an den alten Ratschlag, Schlafwandler nicht zu wecken. Sanft nahm sie ihren Arm, um sie wieder ins Bett zu bringen. Doch als sie sie berührte, rief Sandra laut und eindringlich: »Mama!« Paula flüsterte: »Sandra, ich bin’s, Paula. Ich bringe dich jetzt zurück ins Bett.«
Sandra sah sie erschrocken an: »Oh, du bist es. Wo warst du?«
Einen Arm um ihre Schultern gelegt, führte Paula sie zurück ins Gästezimmer und zu ihrem Bett. Sie blieb noch eine Weile bei ihrer Schwester sitzen, um sicherzugehen, dass sie nicht wieder aufstehen würde, aber Sandra schlief tief und fest.
Zurück in ihrem eigenen Bett, dachte Paula an die Abendrituale ihrer Kindheit zurück. Wie sich die Mutter am Bett über sie gebeugt hatte. Einen Moment lang roch sie wieder ihren Duft, Puder und etwas Parfüm. Sie spürte ihren Atem auf der Wange und ihre Hand im Haar, wenn sie ihr über den Kopf streichelte. »So, und jetzt machst du schön die Augen zu und schläfst. Du musst schlafen, mein Kind, du musst schlafen.«
Als Paula am nächsten Morgen aus dem Bad kam, war Jonas immer noch in der Klinik und Sandra bereits auf dem Weg zu ihrem Yogaunterricht, den sie nach
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